Fürchte dich nicht!
fast pausenlos an ihrem Bett in der Intensivstation der Uni-Klinik wachte, gemeinsam mit wechselnden Mitgliedern aus Goroneks Abteilung.
Heute, am Tag sechs nach ihrer Festnahme, hatte Geis zum ersten Mal eine Auszeit genommen. Zwar bezeichneten die Ärzte Violas Zustand als unvermindert kritisch, doch deutete sich gleichzeitig eine zaghafte Besserung an. So war das Fieber minimal gesunken, auch schien es Geis, als würde sich Viola weniger heftig gegen die Fixierung am Bett wehren und in längeren Schlafphasen zur Ruhe kommen.
Sein eigenes Schlafdefizit hatte dazu geführt, dass er in der gestrigen Nacht fast bewusstlos ins Bett gefallen und heute Morgen in derselben Position wieder aufgewacht war, mit schweißdurchtränktem Hemd und bohrenden Kopfschmerzen. Ein halber Liter Kaffee zum Hotelfrühstück und zwei Schmerztabletten hatten ihn mit dem Reich der Lebenden versöhnt und nach einem Anruf im Krankenhaus war er zu dem Schluss gekommen, dass es Viola verkraften würde, wenn er ein paar Stunden lang nicht ihre Hand hielt, sondern stattdessen einen Spaziergang durch die münstersche Innenstadt machte.
Überall waren ihm die Zecken-Schlagzeilen ins Auge gesprungen, meist in Kombination mit der anscheinend einzigen aktuellen Aufnahme von Rainer Wesseling, dem Fotoausschnitt der Dia-Lab- Weihnachtsfeier. Einmal hatte Geis auch sein eigenes Konterfei entdeckt, zum Glück ein offizielles Passfoto, das nur entfernte Ähnlichkeit mit seinem momentanen Äußeren aufwies. Am dritten Zeitschriftenladen konnte er der Versuchung nicht widerstehen, er kaufte eine Tageszeitung und brachte sich in einem Straßencafé auf den Stand der Nachrichtenlage: Von Rainer Wesseling fehlte nach wie vor jede Spur, er wurde per Haftbefehl in Deutschland und europaweit gesucht. Das Bundesinstitut für Infektionskrankheiten arbeitete, wie der stellvertretende Direktor Professor Blechschmidt bei einer Pressekonferenz bekannt gab, intensiv an Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsrisikos, mit einem neuen Impfstoff sei jedoch frühestens in zwei Jahren zu rechnen. Und der Bundesminister für Gesundheit warnte davor, trotz aller berechtigter Vorsicht die Gefahr einer Epidemie zu überschätzen. Eine Hamburger Taxifahrerin, die sich nach ihrer Erkrankung »echt geil« fühlte, hatte ihre Krankheitsgeschichte für viel Geld exklusiv an eine Illustrierte verkauft. Und ein Neurologe beantwortete in einem Interview die Frage, wieso gerade FSME die Blut-Gehirn-Schranke so leicht durchbrechen und das manipulierte Virus zu bleibenden Wesensveränderungen führen könne. Geis überflog weitere Artikel und legte die Zeitung endlich beiseite, als er den Ausführungen eines Philosophen über die Angstbesetztheit moderner Gesellschaften nicht mehr folgen konnte.
Die Lektüre hatte ihn erneut ermüdet, ihm fehlte nicht nur Schlaf, sondern auch Bewegung, er fühlte sich träge und schwer. Nach dem Bezahlen der Rechnung setzte er seine ungezielte Wanderung fort, über den Domplatz mit seinen klerikalen Gebäuden durch das angrenzende Uni-Viertel bis zum barocken Schloss und dem dahinter liegenden Schlosspark. Hier bemerkte Geis zum ersten Mal, dass sich im Alltagsverhalten der Menschen etwas geändert hatte. Noch nie hatte er so viele Gummistiefel abseits der Nordseeküste gesehen. Und nicht wenige Hundebesitzer, die mit ihren schwanzwedelnden Lieblingen durch das Unterholz streiften, waren in Schutzanzüge gekleidet, die Geis von seinen Spurensicherungskollegen kannte. Doch erst jetzt, als er im Supermarkt an der Kasse stand, wurde ihm klar, welche kommerziellen Auswüchse die Zecken-Phobie bereits angenommen hatte.
Viola lag in einem der fleckigen Waschbetonrundtürme, die die übrigen Gebäude der Uni-Klinik nicht nur an Hässlichkeit, sondern auch an Höhe überragten. Als Geis das Zimmer betrat, hob Thomas Bischoff sein graues Gesicht und nickte ihm zu.
Geis nickte zurück. »Wie geht es ihr?«
»Unverändert, würde ich sagen.«
Bischoff war in der Nacht dabei gewesen, als Polizisten Wesselings Kate umstellt hatten. Geis erinnerte sich an die Gefühle, die in jenem Moment in ihm gekämpft hatten. Da war die Angst, was mit Viola geschehen, ob sie überleben und was die Krankheit aus ihr machen würde. Und gleichzeitig die Befürchtung, Goronek oder ein anderer könnte die Nerven verlieren und schießen. Im Nachhinein war er überrascht, wie besonnen und ruhig er selbst reagiert hatte. Am Ende war alles gut gegangen. Goronek hatte es sich
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