Fürchte dich nicht!
waschen noch die Zähne putzen können. Doch der Ekel, den sie deswegen empfunden hatte, kam ihr angesichts von Noellas Martyrium wie eine Banalität vor. Nachdem die Männer mit ihr fertig waren, hatte Viola darum gebeten, sich um die Verletzte kümmern zu dürfen. Und Faustin hatte es mit einer herablassenden Geste erlaubt.
Noella leckte sich über die aufgeplatzten Lippen. »Muss ich sterben?«
»Nein, du musst nicht sterben. Es wird dir bald wieder besser gehen.«
Es fiel Viola nicht leicht, zu lügen, sie musste sich zwingen, den Blutfleck zu ignorieren. Noella hatte innere Verletzungen erlitten, ihre Scheide, vielleicht sogar ihre Gebärmutter war zerstört. Falls die Blutung überhaupt aufhörte, bestand die Gefahr einer Entzündung. Eine realistische Chance hätte Noella nur gehabt, wenn man sie sofort in ein Krankenhaus gebracht hätte. Aber das war absolut aussichtslos. Ein Menschenleben, zumal das einer Sexsklavin, galt den Banditen gar nichts. Abgesehen davon befand sich das nächste Krankenhaus drei Tagesreisen entfernt.
»Ich habe Schmerzen.« Noella griff sich an den Kopf. »Hier.«
Viola wischte ihr den Schweiß von der Stirn. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«
Tränen fielen auf das graubraune Gesicht des Mädchens. Viola merkte, dass sie weinte. Sie fühlte sich schuldig. Das eigentliche Objekt der Begierde war sie, Viola, doch Joseph, der Boss, hatte verboten, die Weiße anzufassen. Und dafür hatte Noella büßen müssen, Faustin und seine Leute hatten sie aus purem Frust gequält, gnadenlos grausam. Das waren keine Menschen, sondern tollwütige Tiere.
»Warum weinst du? Ich muss doch nicht sterben?«
»Nein, du musst nicht sterben.«
»Sie haben es schon einmal getan, weißt du? Als sie mich entführt haben. Aber da war es nicht so schlimm wie heute.«
Viola schaukelte das Mädchen in den Armen und summte leise. Der Fleck wurde größer und größer. Das Blut stank.
»Sie haben meinem Vater die Augen ausgestochen und ihn dann mit der Machete getötet. Meine Mutter haben sie vergewaltigt und erschlagen. Ich musste zusehen. Und dann haben sie mich mitgenommen. Sie haben gesagt, ich soll für sie kochen und waschen. Warum bringen sie mich um?«
»Du wirst leben.«
Noella glühte, ihre Stirn fühlte sich ganz heiß an.
»Da ist so ein alter weißer Mann. Ihn haben sie auch mitgenommen. Sie tun ihm nichts, weil er ein Priester ist.«
»Ich habe ihn sprechen hören.«
Noella stöhnte. »In meinem Dorf werde ich nicht bleiben können. Kein Mann heiratet eine Frau, die …«
»Mach dir darüber keine Sorgen!«
»Ich muss weit weg gehen, nach Kisangani oder Kinshasa, dorthin, wo mich niemand kennt. Eine Schule besuchen. Etwas lernen. Was meinst du?«
»Das ist eine gute Idee.«
Noella schnappte nach Luft. Ihre Augen verschleierten sich.
Das Bild wurde undeutlich und verschwand. Ein neues tauchte auf. Eine Landschaft, grün, ein verschwommenes, vom Nebel milchig gefärbtes Grün. Bäume, die wie seltsame Wesen aus einem Science-Fiction-Film aussahen, keiner glich dem anderen, manche streckten ihre kahlen Äste wie Fangarme aus. Davor ein breiter Fluss, von dem der Morgennebel aufstieg. Der Kongo. Auf dem Fluss ein flaches Fischerboot mit fast nackten Männern. Ein unwirklich schönes Bild, hätte Viola noch einen Sinn für Schönheit gehabt.
Sie waren fast da. Am Abend oder spätestens am nächsten Tag würden sie den Ort der Übergabe erreichen. Hatte Joseph versprochen. In der Gruppe herrschte eine gespannte Erwartung. Die Banditen waren nervös, sie lachten lauter und kontrollierten ihre Waffen häufiger als sonst. Und Violas Kollegen, die anderen Wissenschaftler, fieberten dem Ende der Geiselnahme entgegen. Nur Viola spürte eine tiefe Gleichgültigkeit. Sie konnte keine Freude empfinden, zu tief saß der Schock über das Erlebte. Manchmal wünschte sie sich sogar, die Übergabe würde scheitern und sie müsste sich nicht dem Leben in Freiheit stellen.
Faustin ging hinter ihr. Sie bewegten sich am Ende des Trupps und Viola merkte, dass mit Faustin etwas nicht stimmte. Er war betrunken oder stand unter Drogen, redete ständig und fuchtelte mit den Armen herum. Sie wollte weg, zu den anderen aufschließen, die schon ein Stück voraus waren, doch Faustin hielt sie immer wieder auf.
Plötzlich lag seine Hand auf ihrem Mund. Er drehte ihr den Arm auf den Rücken und zerrte sie zur Seite, ins Dickicht. Sein stinkender Atem an ihrem Ohr: »Jetzt hab ich dich, Täubchen. Jetzt
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