Fürchte dich nicht!
Tan…«
Weiter kam er nicht. Karla riss ihn an den Haaren nach vorn, bis sein Kopf zwischen ihren breiten Schenkeln lag, intim und schmerzhaft zugleich, denn sein Unterleib klemmte verdreht zwischen den Sitzen. Das Gesicht lief rot an, zuerst hellrot, dann dunkelrot, schließlich bläulich, als Karla ihm mit den Fingern der rechten Hand die Luft abdrückte. Er schlug um sich, traf ihre Nase, fing an zu kratzen. Karla verstärkte den Druck. Die beiden anderen Typen kreischten, mischten sich aber nicht ein.
»Sie bringen ihn ja um.«
»Tu ich nicht.«
Spucki schnappte nach Luft. »Scheiße! Das darf …«
Druck.
»Ihr beiden steigt aus! Sofort!« Karla wollte klare Verhältnisse. Nur sie und der Typ, dem sie eine Lektion erteilen musste. »Ich möchte euch sehen. Vor den Scheinwerfern.«
»Lassen Sie ihn dann laufen?«
»Ja.«
Sie stolperten nach draußen, zitterten im Licht wie Mädchen mit zu kurzen Röcken in einer kalten Winternacht.
Spucki gurgelte.
»Und? Hast du mir etwas mitzuteilen?«
»Schei…«
Druck.
»Das war das Falsche. Also?«
»Ich … ich … ich …«
»Ja?«
»Ich entschuldige mich.«
»Wofür?«
»Für mein Benehmen.«
»Und sonst?«
»Was? Was?«
»Deine Einstellung zu Prostituierten?«
»Ich … ich schulde …«
»Ja?«
»… ihnen Respekt.«
»Gut.« Karla zog ihn hoch und gab ihm einen Stoß. »Verschwinde!«
Er griff sich an den Hals, taumelte aus dem Auto und zu seinen Freunden, die ihn auffingen. Karla setzte zurück. Als sie anfuhr, schlug die Seitentür zu. Die drei würden sie nicht anzeigen, da war sie sich ziemlich sicher. Und wenn doch, konnte sie damit leben. Ein letzter Blick auf die schwankenden, verdatterten Gestalten. Ja, das war es wert gewesen.
Karla wischte sich Blut von der Wange. Sie fühlte sich gut. Sie fühlte sich sogar sehr gut. Richtig euphorisch. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Gewalt wie eine Droge wirkte. Noch vor ein paar Wochen hätte sie die Zähne zusammengebissen und das frauenfeindliche Geschwafel kommentarlos hingenommen. Doch seitdem sie diese schlimme Grippe überstanden hatte, war sie nicht mehr bereit, faule Kompromisse einzugehen, diesen ganzen Mist zu akzeptieren, der ihr täglich über den Weg lief. Ja, die Grippe hatte etwas verändert. Sie tickte nun anders. Als wäre sie ein neuer Mensch geworden.
32
Münster, Altstadt
Die Zeckenabteilung befand sich gleich neben der Kasse des Supermarktes: weiße und blaue Kunststoff-Schutzanzüge mit Kapuzen für Männer, Frauen und Kinder in allen Größen; luftdicht verschließbare Gummistiefel; Repellents, die mit ihren Duftstoffen Zecken vom Stechen abhielten; Insektizide für den Garten; Zecken-Pinzetten zum sofortigen Entfernen von Zecken; Broschüren mit Tipps zum Umgang mit Zecken. Das alles auch im handlichen Zecken-Set für Singles und Familien.
Der Handel hatte sich mit einer Geschwindigkeit auf die neue Bedrohung eingestellt, die sogar Experten in Staunen versetzte. Und die wiederum andere, zum Teil selbst ernannte, Experten für übertrieben hielten und von Hysterie reden ließen.
Tatsächlich gab es bis jetzt erst rund zwanzig gesicherte Erkrankungen mit FSME des neuen Typs. Von diesen Infizierten waren fünf Patienten verstorben, allerdings nur eine Patientin, eine dreiundachtzigjährige Frau, unmittelbar an FSME, die anderen Todesfälle gingen auf das Konto unvorsichtiger oder durch Fieberwahn verursachter Handlungen. Soweit man wusste.
An der Unsicherheit jeglicher Analysen entzündete sich die Fantasie der Medien. Ungeheure Infektionsdunkelziffern wurden in den Raum gestellt, die Gefahr für die Bevölkerung in den düstersten Farben ausgemalt. Vor allem die Wesensveränderung, die die neue FSME bewirkte, stachelte Spekulationen an. Werden wir alle zu Zombies?, titelte ein seriöses Wochenmagazin in seiner neuesten Ausgabe.
Geis stellte zwei Flaschen Mineralwasser auf das Transportband an der Kasse. In den letzten Tagen hatte er den Wirbel, den die Zeckengeschichte auslöste, nur als eine Art Hintergrundrauschen wahrgenommen – wenn er zufällig eine Zeitung in die Finger bekam oder irgendwo ein Fernseher lief. Er war mit anderen Dingen beschäftigt gewesen. Zuerst hatten ihn Goronek und seine Leute mit einem Vernehmungsmarathon genervt, in dem er auf unwesentlich variierte Fragen x-mal die gleichen Antworten gab. Und dann, als er nach achtundvierzig Stunden endlich aus dem Polizeigewahrsam freikam, war Viola de Monti bereits so schwer erkrankt, dass er
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