Fürchte dich nicht!
antrainiert wird: »Ist der Stationsarzt informiert?«
»Sie können ihn ja fragen«, antwortete Viola. »Und außerdem …«, rief sie der davoneilenden Schwester hinterher, »… hätte ich gerne etwas zu essen. Das Zuckerwasser aus dem Tropf steht mir bis zum Hals.«
»War das zu hart?«, erkundigte sie sich anschließend bei Geis.
»Sagen wir mal so: Du hättest es freundlicher formulieren können.«
»Die Kuh war doch auch nicht freundlich.« Viola grinste. »Da ist es schon wieder passiert. Richtig?«
»Richtig.«
»Du musst mir helfen.« Sie schlug ihm scherzhaft gegen den Arm. »Kneif mich, trete mir auf den Fuß, unterbrich mich, wenn ich mich schlecht benehme. Damit ich es merke.«
Die Tür flog auf. »Es ist in Ordnung, solange Sie Besuch haben«, verkündete die Krankenschwester und stellte ein Tablett vor Viola ab. »Aber sobald Sie allein sind …«
»… werde ich wieder angeschnallt«, ergänzte die Patientin.
»Zu Ihrem eigenen Schutz.«
Viola biss ein großes Stück von einem belegten Brot ab.
»Wer hat euch damals herausgeholt?«, erkundigte sich Geis. »Aus dem Kongo, meine ich.«
»Die CIA.«
»Der amerikanische Geheimdienst?«
»Die CIA hat im Osten Kongos das eigentliche Sagen«, nuschelte Viola mit vollem Mund. »Über Mittelsmänner, natürlich. Das Land ist reich an Bodenschätzen. Die Gründe für den ständigen Bürgerkrieg dort heißen Coltan, Diamanten, Kupfer, Kobald und Gold. Dafür bekommt man Geld und Waffen. Ohne Geld und Waffen ist man nichts. Weißt du, wofür Coltan benötigt wird?« Viola stopfte sich mehr Brot in den Mund.
»Nein.«
»Zur Härtung von Weltraumkapseln und Interkontinentalraketen sowie zur Herstellung von Mikroprozessoren. Ohne Coltan wäre die westliche Welt aufgeschmissen, kein Handy würde funktionieren. Also ist es wichtig, die Minen zu kontrollieren. Die schwarzen Tagelöhner, die sich in den Minen krank schuften, werden mit Almosen abgespeist. Aufkäufer sind Libanesen, Griechen, Israelis. Aber im Hintergrund ziehen die USA die Fäden. Mit tausendfachem Profit landet das Zeug irgendwann in den Industriestaaten. Joseph wusste, an wen er sich wenden musste, um für uns einen guten Preis zu bekommen. Er hat uns an einen Israeli verkauft. Über Uganda sind wir nach New York zurückgeflogen.«
Neben dem Teller mit belegten Broten stand auf dem Tablett eine Kanne Kräutertee, aus der sich Viola jetzt eine Tasse einschenkte. Sie testete die Temperatur und leerte die Tasse dann in einem Zug.
»Die ersten Wochen nach der Freilassung erlebte ich wie in Trance. Ich bekam kaum etwas mit, genoss es, mich unter eine heiße Dusche zu stellen oder richtigen Kaffee zu trinken. Wir wurden von Psychologen betreut. Sie fragten uns, wie wir uns fühlten, und erzählten etwas von posttraumatischen Belastungsstörungen. Mir kam das ziemlich abstrakt vor. Bis ich zwei Jahre später begriff, was es bedeutete.« Sie ließ sich auf das Kissen fallen und schloss die Augen. »Vielleicht hast du recht. Wir sollten es ruhig angehen lassen.«
Ihre Atemzüge wurden gleichmäßiger. Geis glaubte schon, dass sie eingeschlafen war, als sich das Lid ihres linken Auges hob: »Komm morgen wieder, Martin! Und sag der Gefängniswärterin, dass sie mich anketten darf!«
Bischoff stand draußen vor dem Eingang und rauchte.
»Sie schläft«, sagte Geis. »Mach Feierabend und geh nach Hause! Heute kriegst du nichts mehr aus ihr heraus.«
»Ich muss es zumindest versuchen.« Bischoff drückte die Zigarette im Standaschenbecher aus. »Sonst reißt mir Goronek den Kopf ab.«
»Dann viel Spaß«, spottete Geis. »Es gibt Momente, in denen bedauere ich nicht, dass ich Goronek eine reingehauen habe.«
»Das geht vorüber«, sagte Bischoff müde. »Wenn mich meine hungrigen Kinder angucken, bin ich froh, dass ich mich zurückhalten kann.«
35
Münster, Universitätsklinik
Viola las die E-Mails, die der graugesichtige Polizist ihr gegeben hatte, zum dritten Mal und verstand sie noch immer nicht. Das heißt, sie verstand den Sinn der einzelnen Texte, aber sie brachte sie nicht mit dem Priester in Einklang, dessen konfuses Geschwätz sie durch die Bretterwand gehört hatte. Wie war es möglich, dass ein Mann, der nicht nur jahrelang fernab der Zivilisation gelebt, sondern offenbar auch regelmäßig und intensiv dem Alkohol zugesprochen hatte, sich auf einmal in einen umfassend interessierten Intellektuellen und Gentechniker verwandelte? Und passte das Foto, das sie von Rainer
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