Fürchte dich nicht!
Wesseling ist ein gefährlicher Spinner. Je früher …«
»Raus«, sagte Viola ohne dramatische Betonung. »Sofort!«
Obwohl die Wissenschaftlerin ans Bett gefesselt war, gab es keinen Zweifel, wer sich in der stärkeren Position befand. Bischoff zog den Kopf zwischen die Schultern. »In Ordnung. Ich komme später wieder.« Eine wortlos an Geis übermittelte Warnung, dann war der Polizist draußen.
»Schnall den Gurt ab!«, befahl Viola. »Worauf wartest du noch?«
»Wie fühlst du dich?« Geis zögerte. Sollte er nicht besser einen Arzt fragen?
»Mir geht es gut. Ich bin geistig voll zurechnungsfähig – wenn du das meinst.«
»Okay.« Er ging das Risiko ein und lockerte den Gurt am rechten Arm.
Sofort griff Viola in sein Haar und zog ihn zu sich herab. Geis spürte, wie ihre Zunge in seinen Mund eindrang und wild herumtobte, wie bei einem Teenagerkuss. Als er fast keine Luft mehr bekam, stieß sie ihn zurück. Die von bläulichen Ringen umgebenen Augen strahlten: »Ah! Genauso habe ich es mir vorgestellt.«
»Ich auch.« Er wischte sich über den Mund. »Ich hätte nur nicht gedacht, dass es in einem Krankenhaus passiert.«
Und mit einer Viola, die er so noch nicht kannte.
Viola hatte nun auch ihren linken Arm befreit und tastete nach seiner Hand. »Was ist mit dir? Freust du dich nicht?«
»Natürlich. Es ist bloß …«
»Du glaubst doch nicht, dass ich mich in ein Alien verwandelt habe?«
»Nein.« Oder doch? »Ich muss daran denken, was auf Norderney passiert ist. Wie mich Saskia Fischer vergewaltigen wollte.«
Sie zog ihn wieder näher zu sich heran. »Ich will dich nicht vergewaltigen. Ich bin auf einvernehmlichen Sex aus.«
»Du bist gerade erst aus dem Fieber erwacht.«
»Bleibst du heute Nacht hier?«
»Moment mal, Viola. Ich finde, wir sollten nichts überstürzen.«
Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Du bist krank. Du …«
Ihr Kopf sank auf das Kissen. »Herrgott, Martin! Ihr Männer seid vielleicht verkorkste Wesen.«
Sie schwiegen. Geis fühlte sich unbehaglich. Da hatte er tagelang an ihrem Bett gewacht, darauf gehofft, dass sie die Augen aufschlagen und mit ihm reden würde. Und als sein Wunsch endlich in Erfüllung ging, gerieten sie sofort in Streit. Das Quälendste aber war die Frage, ob er wirklich mit Viola diskutierte oder mit dem Virus, das sich in ihrem Gehirn festgesetzt hatte.
»Du verstehst mich nicht.« Über ihre Wangen liefen Tränen. »Du verstehst nicht, warum ich das getan habe. Du verachtest mich deswegen.«
»Nein, das tue ich nicht. Bei einer der Vernehmungen im Polizeipräsidium hat man mir die E-Mail von Wesseling gezeigt, in der er über seine Erlebnisse im Kongo schreibt. Ich kann mir vorstellen, was du mitgemacht hast.«
»Vorstellen?«, kam es dumpf aus dem Kissen. »Nein, das kannst du nicht. Du weißt nicht, was es bedeutet, zusehen zu müssen, wie ein Mädchen vor deinen Augen zu Tode gequält wird. Und dir bei jedem Schlag, bei jedem Stich, bei jedem Stoß bewusst ist, dass eigentlich du gemeint bist. Dass sie dich ficken, dich vergewaltigen, dich umbringen wollen. Dass dieses arme Mädchen, dieses junge, vielleicht siebzehnjährige Ding an deiner Stelle herhalten muss. Dass es für dich geopfert wird. Nein, das möchtest du dir nicht vorstellen, Martin Geis. Ich habe mich vor Männern geekelt, vor allen Männern, sobald sie mir zu nahe kamen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn sie nicht mindestens einen Meter Abstand hielten.«
Geis räusperte sich. »Und dieser Faustin …«
»… war der schlimmste. Grausamer, unbarmherziger, unmenschlicher als alle anderen. Joseph, dem Chef der Bande, ging es hauptsächlich um Geld, Faustin wurde von seiner Bosheit beherrscht.«
»Immerhin hat er dich verschont.«
»Wer sagt das?«
»Wesseling. Und du selbst …«
»Faustin hat sich zurückgehalten. Bis zum letzten Tag. Da hat er es versucht. Hat mich in den Wald gezerrt und zu Boden geworfen.«
»Und dann hat er dich …?«
»Nein. Er ist nicht mehr dazu gekommen. Joseph hat ihn erschossen, ohne Vorwarnung. Eine Kugel in den Kopf. Faustins Gehirn und Blut klebten noch tagelang an meinem T-Shirt. Ich habe es aufbewahrt, als Trophäe. Immer, wenn mein Hass auf Männer zu stark wurde, habe ich es herausgeholt und angeschaut.«
Eine Krankenschwester kam herein, registrierte, dass Viola nicht mehr angeschnallt war, und strafte Geis mit dem grimmig-tadelnden Gesichtsausdruck, der Krankenhauspersonal schon während der Ausbildung
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