Fürchte dich nicht!
Wesseling gesehen hatte, die Momentaufnahme eines ungewaschen wirkenden Typen mit langen Haaren, Säufernase und trüben Augen, nicht weitaus besser zu dem brabbelnden Missionar im Kongo als zu einem Wissenschaftler, der akribisch plante, die Menschheit auf eine neue Bewusstseinsebene zu heben? Wie konnte Wesseling schließlich behaupten, sich in sie verliebt und häufig in ihrer Nähe aufgehalten zu haben? So jemanden hätte sie doch bemerkt, aus einer Gruppe von Mikrobiologen würde Wesseling herausstechen wie Jesus aus einem Kardinalskonklave. Andererseits gab es keinen Grund anzunehmen, dass die E-Mails nicht von Wesseling stammten. Wie auch immer er es angestellt hatte, nach seiner Rückkehr aus Afrika musste er sich völlig verändert und mit Ehrgeiz weitergebildet haben. Dazu so heimlich, dass er seinen Kollegen bei Dia-Lab mühelos den schlicht gestrickten Mäusewärter vorspielen konnte.
Viola erinnerte sich daran, dass sie sich in letzter Zeit häufig beobachtet gefühlt hatte – in ihrer Wohnung, auf der Straße. Vielleicht war es ja nicht nur ein Gefühl gewesen, ein Symptom ihrer Angststörung, wie die Therapeuten ihr klarzumachen versucht hatten. Vielleicht hatte Wesseling ihr tatsächlich nachgestellt.
Die Tür ging auf und Geis kam herein. Er sah bleich und angestrengt aus. Der arme Martin! Ihn hatte das Ganze anscheinend genauso mitgenommen wie sie selbst.
Geis küsste sie flüchtig auf die Wange und zog einen Stuhl heran. »Du darfst dich frei bewegen?«
»Ja. Der Ärzterat hat heute Morgen entschieden, dass ich keine Gefahr mehr darstelle. Das Fieber ist zurückgegangen, ich bin nur noch ein bisschen schwach. Wenn keine Komplikationen eintreten, kann ich die Klinik in ein paar Tagen verlassen.«
»Du bist also gesund?«
»Ja.«
»Bis auf …« Seine Mundwinkel verbogen sich zu einem unechten Lächeln.
Ihr gefielen weder das Lächeln noch der vorwurfsvolle Ton, in dem er mit ihr redete. »Bis darauf, dass ich keine Angst mehr habe. Findest du das schlimm?«
»Nein.« Geis deutete auf die Papiere. »Was liest du da? Wesselings E-Mails?«
»Kennst du sie?«
Der suspendierte Hauptkommissar nickte.
»Und kamen sie dir nicht komisch vor?«
»Weil alle, mit denen wir geredet haben, ihn nicht für einen Wissenschaftler und Philosophen hielten? Das kann Tarnung gewesen sein. Er wäre nicht der erste Verbrecher, der seiner Umgebung den Idioten vorspielt. Immerhin ist jetzt klar, warum er sich Zecken als Überträger ausgesucht hat.«
Viola guckte ihn fragend an.
»Wegen dir . « Geis war verblüfft über ihre Ahnungslosigkeit. »Er wollte dir imponieren. Du bist die Zeckenexpertin. Du solltest seine Kreation bewundern.«
Daran hatte sie tatsächlich noch nicht gedacht.
»Und wer weiß«, Geis zuckte mit den Schultern, »vielleicht ist Wesseling ja erst so schlau, seitdem er sich selbst infiziert hat. Wäre doch möglich, dass die neue FSME noch ganz andere Dinge bewirkt. Eine Explosion der Intelligenz zum Beispiel.«
»Was für ein Quatsch«, knurrte Viola.
»Ach ja?«, konterte Geis. »Wie gut kennst du dich denn mit der Krankheit aus?«
Viola spürte, wie ihr Unterkiefer verkrampfte. Sie hatte sich auf Geis gefreut. Und jetzt saß er bräsig neben ihrem Bett und benahm sich wie ein Kotzbrocken. Womit hatte sie das verdient? »Bist du auf Streit aus?«
»Weil ich bezweifle, dass du dich wie ein vernünftiger Mensch verhalten hast?«
»Das ist es also.«
»Ja. Das ist es. Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, Viola. Um ein Haar wärst du an der FSME gestorben.«
»Bin ich aber nicht.«
»Stattdessen hast du dich verändert. Wer sagt, dass Angstfreiheit die einzige Folge bleibt? Hast du eine Ahnung, was in ein paar Wochen oder Monaten passieren wird?«
Der Stich in ihrem Herz tat weh, verdammt weh. Das Virus killte nicht alle Gefühle, so viel stand fest. Sie war fast erleichtert angesichts dieser Erkenntnis. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass Geis und sie nicht zusammenkommen würden, er war längst auf der Flucht.
»Hätte ich dich vorher fragen sollen?«
»Warum nicht? Wir haben das gemeinsam durchgezogen. Und dann suchst du auf eigene Faust die Zecken und lässt dich stechen. Das war dumm und egoistisch.«
»Meine Angst habe ich auch mit niemandem geteilt.« Sie sprach jetzt sanft, wie mit einem Kind. »Trotzdem verstehe ich deine Bedenken. Du hast viel für mich getan, ich bin dir wirklich sehr dankbar. Denk nicht, du bist verpflichtet, weiter hierzubleiben. Ich komme
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