Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
existiert.
Das stimmte mich besorgt. Sehr besorgt. Ich spürte ein nervöses Ziehen im Magen, das mir signalisierte, dass hier irgendetwas faul war, und es verging auch nicht, als ich in Rivers lächelndes Gesicht und seine Leuchtkäfer-Augen sah.
Immerhin war er zurückgekehrt, und wenn ich ganz ehrlich war, dann … war ich froh darüber. Vielleicht war das ein Fehler, ich weiß es nicht. Aber warum hätte ich das Glück ohrfeigen sollen, wenn es vor mir stand? Wir würden ein Lagerfeuer am Meer machen und all meine Zweifel und Bedenken konnten von mir aus zur Hölle fahren.
Das Lagerfeuer. Von der Straße neben Sunshines Haus aus wand sich ein steiler Serpentinenpfad die Klippe hinunter, der in einer kleinen, abgeschiedenen Meeresbucht endete. Ungefähr anderthalb Kilometer entfernt gab es einen viel größeren öffentlichen Strand, aber ich mochte meine kleine Privatbucht, weil sie vor Blicken geschützt war, und niemand wusste, dass es sie gab. Ich saß oft allein hier, um zu lesen, für mich zu sein und dem Wellenrauschen zuzuhören.
Luke, Sunshine und ich kamen manchmal auch zum Schwimmen herunter. Zwar war das Meer meistens zu kalt und stürmisch dafür, aber an sonnigen, ruhigen Sommertagen ging es, und dann machten wir ein Picknick und badeten in der Bucht. Sunshine hatte einen raffinierten weißen Badeanzug, den sie liebte, weil er ihre Kurven sensationell zur Schau stellte. Ich selbst trug ein altmodisches Badekostüm, das natürlich früher einmal Freddie gehört hatte. Es war marineblau und mit weißen Nähten abgesetzt, hatte einen schmalen Gürtel in der Taille und ließ bis auf Arme und Beine praktisch keine Haut sehen.
Ich liebte unsere Badeausflüge. Obwohl wir uns zu Tode froren, lachten wir die ganze Zeit. Manchmal tunkte Luke mich unter oder lag neben Sunshine im Sand und küsste sie, aber meistens hatten wir einfach jede Menge Spaß miteinander. Luke hatte sich zwar bei River darüber beschwert, sich den Sommer über immer allein mit zwei Mädchen langweilen zu müssen, aber ich war mir sicher, dass er in Wirklichkeit wahnsinnig gern mit uns zusammen war. Zumindest hatte er sich nie die Mühe gemacht, sich jemand anderen zu suchen, mit dem er seine Zeit verbringen konnte.
Jetzt war es natürlich noch nicht einmal annähernd warm genug, um zu schwimmen, aber die Sonne hatte die Wolken beiseitegeschoben und der Himmel war strahlend blau, obwohl es immer noch ziemlich früh am Morgen war. Luke hatte aus unserem staubigen Weinkeller – der mich immer an den aus Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Das Fass Amontillado erinnerte – eine Flasche Sherry ausgegraben, von dem er und Sunshine tranken, während River und ich trockenes Treibholz sammelten und zu einem Haufen aufschichteten. Während Luke den Sherry geholt hatte, hatte ich im Keller einen alten Camping-Grill entdeckt, auf dem River uns zum Mittagessen Sandwiches mit geschmolzenem Käse, Tomaten und Senf toastete.
Sunshine hatte ein paar Decken eingepackt. Nachdem wir gegessen hatten, machten wir es uns darauf gemütlich und beobachteten, wie die Flammen vor dem blauen Meer rot, orange und gelb in die Höhe züngelten.
River und ich hatten jeweils unsere eigene Decke. Wir hielten Abstand und ich schaute ihn noch nicht einmal an.
Jedenfalls kaum.
River lag auf dem Rücken, hatte die Knie aufgestellt und seine hübschen nackten Füße zur Hälfte im Sand vergraben. Er muss meine Blicke gespürt haben, weil er mir irgendwann den Kopf zudrehte und mir träge und wie beiläufig zuzwinkerte, als wüsste er, dass ich anfing, ihm ein bisschen zu misstrauen, und wollte mir zeigen, dass es ihn nicht wirklich kümmerte.
Ich kam zu dem Schluss, dass es irgendwie … gefährlich war, neben einem anderen Menschen zu schlafen. Womöglich sogar gefährlicher, als mit einem anderen Menschen zu schlafen. Nicht dass ich in dieser Beziehung Erfahrung gehabt hätte. Aber neben River im selben Bett gelegen und neben ihm aufgewacht zu sein, hatte etwas mit mir gemacht, das nicht gut war. Ich hatte dadurch das Gefühl, ihn zu kennen, so wie ich Sunshine und Luke und meine Eltern kannte. So wie ich Freddie gekannt hatte.
Dabei kannte ich ihn nicht. Dass ich trotzdem diese Nähe empfand, war gefährlich. Und nicht wirklich gesund, wie ich befürchtete.
»Ich muss dir was total Merkwürdiges erzählen, Violet.«
Sunshine klebte förmlich an meinem Bruder. Eine Hand lag auf seinem Schenkel, in der anderen hielt sie die Sherryflasche, und ihre langen Haare
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