Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
Vom Netzwerk:
türmten. Obwohl meine Haare von unserem Strandpicknick noch total zerzaust und voller Salz gewesen waren, schaffte er es trotzdem, eine elegante Hochsteckfrisur daraus zu zaubern. Als er fertig war, lief ich zu einem der hohen, langen Spiegel, um mich anzuschauen. Er war verzerrt und fleckig, aber man konnte immer noch genug darin erkennen.
    »Wo hast du das gelernt?«, fragte ich und berührte ehrfürchtig meine Haarpracht. »Warte … sag nichts. Deine Mutter ist Friseurin.«
    River lachte, aber das Lachen reichte nicht bis zu seinen Augen. »Nein. Meine Mutter … geht oft auf Dinnerpartys. Während sie sich anzieht und fertig macht, unterhalten wir uns immer, und als ich noch klein war, hat sie mir beigebracht, ihr die Haare zu machen. Also hab ich es von ihr gelernt.«
    Das hörte sich an, als hätte er gerade etwas sehr Persönliches preisgegeben. Es hörte sich … echt an. Nicht wie eine Lüge. Umso größer war mein Bedürfnis, ihm noch mehr Fragen zu stellen, aber er ließ mich stehen, ging zu einem roten Schrankkoffer, der neben dem Grammofon stand, und stöberte darin herum. Das Gespräch war offensichtlich beendet.
    Ich strich mir über die Haare, drehte mich zum Spiegel und stellte mir vor, wie River als kleiner Junge – mit seiner geraden Nase und den geschwungenen Lippen in einem glatten, zarten Kindergesicht und genau so schmal und zart gebaut wie Jack – seiner Mutter half, ihre Haare für eine Party hochzustecken. Das Bild, das ich vor mir sah, war verdammt süß und ließ das Misstrauen schmelzen, das ich seit dem Friedhof gegen ihn hegte.
    Luke trat neben mich vor den Spiegel und schob mich zur Seite, damit er sich selbst betrachten konnte. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich in seine Mundwinkel, als er sah, wie sich die Nadelstreifen über seiner Brust und an seinen Armen spannten. Aber dann verblasste sein Lächeln plötzlich und seine Hände flogen zu seiner Stirn.
    Luke hatte einen ziemlich spitzen Haaransatz und machte sich jetzt schon Sorgen, er könne einmal Geheimratsecken bekommen. Ich ertappte ihn oft dabei, wie er sich im Spiegel oder in Schaufensterscheiben betrachtete und dabei leicht den Kopf hin- und herdrehte, um herauszufinden, ob sich sein Haaransatz bereits zurückzog.
    »Schau dir das an, Vi.« Er deutete auf seine Stirn. »Der Ansatz ist viel höher als früher. Ich schwöre, er hat sich zurückgezogen.«
    »Hat er nicht«, sagte ich, ohne hinzuschauen.
    »Bist du sicher? Ich darf auf gar keinen Fall Geheimratsecken oder eine Glatze bekommen, Vi. Dafür bin ich einfach nicht der Typ. Ich würde total lächerlich aussehen.«
    Ich seufzte und musste dann lachen. »Dein Haaransatz ist nicht zurückgegangen. Ehrenwort.«
    »Okay.« Luke atmete ein paarmal tief durch und drehte sich vom Spiegel weg. »Dir glaube ich das.«
    Ich sah mich lachend nach River um, der gerade aus dem Schrank stieg und in den Kleidungsstücken, die er sich zusammengesucht hatte, wie ein italienischer Landarbeiter aussah. Das rote Halstuch, das er sich um den Hals geknotet hatte, stammte mit ziemlicher Sicherheit von einem der Künstlerfreunde meiner Eltern. Er hatte sogar eine Ukulele aufgestöbert, mit der er sich jetzt auf eines der zerschlissenen Samtsofas setzte und die ersten Akkorde von Moon River anschlug – wahrscheinlich zu Ehren meines Hepburn-Kleids.
    In der Zwischenzeit hatte Jack eine karierte Weste und eine Tweedmütze gefunden. Ich glaube, dass ihm das Verkleidungsspiel Spaß machte, denn er lächelte, obwohl er für einen Jungen seines Alters trotzdem immer noch viel zu ernst und still war. Er strahlte einfach nicht die Unbekümmertheit und Unschuld anderer Kinder aus. Und ich fragte mich, woran das lag.
    Jack verschwand mit seinem Kostüm im Schrank und kam als Zeitungsjunge wieder heraus. Er sah wirklich original so aus wie die kleinen Jungen, die in alten Filmen immer Zeitungen auf der Straße verkaufen. Obwohl ich sonst eigentlich nicht besonders sentimental veranlagt war, hatte sein Anblick etwas so Herzergreifendes, dass mich das Bedürfnis überkam, mich hinzusetzen und ihn auf der Stelle zu malen. Dabei war es ziemlich lange her, seit ich das letzte Mal Lust gehabt hatte, zum Pinsel zu greifen.
    Luke und ich hatten schon angefangen zu malen, bevor wir sprechen konnten. Allerdings nicht mit Buntstiften wie andere Kinder, sondern gleich mit Acrylfarben. Aber nachdem wir jahrelang erleben mussten, dass unseren Eltern ihre Kunst wichtiger war als ihre Kinder, hatte ich angefangen

Weitere Kostenlose Bücher