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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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vor Tagesanbruch öffnete, als ich sah, wie eine von Jack angeführte Gruppe von Kindern zielstrebig in eine der Seitenstraße bog. Sie folgten Rivers Anweisung und waren auf dem Weg in die Glenship Road, die wiederum zur Villa der Glenships und damit zum Baumhaus führte.
    Chester und Clara Glenship hatten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gemeinsam mit den Eltern meines Großvaters zu den wohlhabendsten Bürgern der Stadt gehört. Sie hatten ebenfalls eine Villa am Meer errichtet, die allerdings näher an der Stadt lag als Citizen Kane, und feierten dort rauschende Partys für ihre Freunde aus Boston und New York, als wären sie einem Roman von F. Scott Fitzgerald entsprungen. Aber den Glenships ging das Geld noch früher aus als meinen Vorfahren. Und um alles noch schlimmer zu machen, schlitzte der älteste Sohn von Chester und Clara, ein charmanter Herzensbrecher mit leuchtenden Augen, seiner jungen Geliebten im Weinkeller auch noch mit einem Klappmesser die Kehle auf. Die Gründe für dieses entsetzliche Verbrechen wurden nie geklärt, aber natürlich stürzten sich die Zeitungen gierig auf die Story, sodass der Ruf der Familie für alle Zeiten dahin war. Die riesige Villa stand nun schon jahrzehntelang einsam und verlassen, von Efeu überwuchert und einer Aura vergangenen Glücks umweht da und verfiel allmählich.
    Als ich noch jünger gewesen war, hatte ich mir oft vorgestellt, dass ein Nachfahre der Glenships eines Tages nach Echo zurückkehren und das Haus wieder aufbauen würde. Ein schöner junger Mann, der das völlige Gegenteil seines mordlüsternen Urahns wäre. Er hätte glänzende, aus der Stirn gekämmte lackschwarze Haare und wäre unfassbar gebildet und scharfzüngig. Anfangs würden wir uns nicht ausstehen können, uns aber dann rettungslos ineinander verlieben, Kinder bekommen und in der Villa am Meer gemeinsam alt werden.
    Ich muss damals noch ziemlich naiv gewesen sein.
    Hinter dem riesigen Anwesen, das sich bis zum Waldrand erstreckte, hatte sich der einst gepflegte Garten mittlerweile in einen wild wuchernden Urwald verwandelt, und die Brunnen waren mit Moos überzogen und unter den dichten Sträuchern teilweise kaum mehr auszumachen. Verglichen mit dem Haus der Glenships war Citizen Kane noch in weitaus besserem Zustand.
    Das Baumhaus war ganz anders als das, was man sich normalerweise darunter vorstellt. Es war eher ein Baum schloss . Die Glenships hatten außer ihrem Sohn nämlich noch eine Tochter gehabt, die sie über alles geliebt hatten. Ihr war praktisch keine andere Wahl geblieben, als entweder zu einer verwöhnten Zicke heranzuwachsen oder jung zu sterben. Letzteres war der Fall gewesen. Chester und Clara hatten ihrer hübschen Prinzessin ein Miniaturschloss in einem der Bäume errichten lassen, in dem sie fröhlich spielte, bis sie eines Tages herabstürzte, sich das Genick brach und starb.
    River und ich folgten Jack und den anderen Kindern bis zu dem kindermordenden Baumhaus. Die Farbe war schon vor langer Zeit abgeblättert, aus den grauen, schiefen Holzbrettern ragten rostige Nägel hervor, die nur darauf zu warten schienen, dass sich jemand an ihnen verletzte und Wundstarrkrampf bekam, und das in der Mitte eingesunkene Giebeldach war lediglich eine kräftige Windböe davon entfernt, komplett einzustürzen.
    Die Kinder versammelten sich um Jack und bildeten einen Halbkreis um den Baum. Während River und ich uns langsam näherten, erklomm Jack die morschen Holzplanken, die einst als Stufen an den Stamm genagelt worden waren. Den Kopf in den Nacken gelegt, verfolgten wir jede seiner Bewegungen. Oben angekommen, stieß er die vermoderte Tür auf und trat in das Haus.
    Mein Herz schlug einmal. Zweimal.
    Kurz darauf öffnete sich die Tür, und er kam – zusammen mit Isobel – wieder heraus. Sie lächelte schüchtern und winkte den Kindern unten zu, als wäre nichts weiter passiert. Als würden ständig Kinder verschwinden, zwei endlos lange Nächte in einem verfallenen Baumhaus verbringen, sich von Gott weiß was ernähren, auf dem nackten Holzboden schlafen und die halbe Stadt zu Tode ängstigen.
    Isobel kletterte den Stamm hinunter und wurde von dem Pulk von Kindern verschluckt. Alle riefen wild durcheinander, jubelten und beglückwünschten sie dazu, nicht entführt oder gar getötet und in die Hölle verschleppt worden zu sein. Ich sah, wie ihr Bruder Charlie sie umarmte und ihrer beider schwarzen Locken miteinander verschmolzen, bis man sie nicht mehr voneinander

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