Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Menschheit einen Gefallen erwiesen.«
    »Nein, hast du nicht«, widersprach Neely. »Du hast Gott gespielt.«
    »Ich bin ein Gott.«
    Neely winkte erschöpft ab. »Wunderbar. Jetzt geht das wieder los. Was soll ich dazu noch sagen? Mit einem Gott kann man schließlich nicht diskutieren.«
    »Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, sagte ich erstaunt. »Ein ganzer Ort rottet sich selbst aus, indem sich seine Einwohner gegenseitig erschießen? Warum stand nichts darüber in der Zeitung?« Ich stellte mich zwischen Neely und River. Dunkles Grauen erfasste mich. War es tatsächlich möglich, dass River so viele Menschen getötet hatte? Das hatte nichts mehr mit einem lustigen Streich oder mit Rache zu tun. Das war böse. Teuflisch .
    »Weil Rattlesnake Albee mitten im Nirgendwo lag und sich niemand für das Kaff interessierte.« River holte kurz Luft, bevor er weitersprach. »Und weil ich und mein Vater dafür gesorgt haben, dass sich niemand dafür interessierte.«
    Es entstand eine lange Pause.
    »Du und Dad, ihr seid euch ähnlicher, als du denkst«, sagte Neely schließlich. »Es wäre sehr viel einfacher für dich, wenn du das endlich begreifen würdest.«
    River sah seinen Bruder an. »Und du wunderst dich, warum ich immer wieder abhaue? Glaubst du, ich weiß nicht, wie ähnlich ich ihm bin? Hast du überhaupt eine Ahnung, was für eine Angst mir das macht? Fahr wieder nach Hause, Neely. Du verschwendest hier nur deine Zeit.«
    Neely blinzelte ein paarmal, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Ich habe von dieser Sache mit den Jugendlichen gelesen, River. Du hast sie denken lassen, sie würden brennen. Zwei Stunden lang. Zwei ganze Stunden lang haben sie sich in Todesqualen gewunden und geschrien, während ihre Eltern hilflos zusehen mussten.« Neely deutete auf den Bluterguss unter seinem Auge. »Nachdem ich davon gelesen habe, bin ich in eine Sportbar gegangen und habe mir irgendein eingebildetes Arschloch gesucht, mit dem ich mich prügeln konnte. Und jedes Mal, wenn ich ihm meine Faust ins Gesicht rammte, habe ich mir gewünscht, du wärst es.«
    River hob die Hände und trat einen Schritt zurück. »Brennende Teenager? Wovon redest du, Neely?«
    »Von den jungen Leuten in diesem Park in Texas. Die Sache ist erst ein paar Wochen her. Ich habe die Zeitung noch im Wagen liegen. Dachtest du, ich würde es nicht herausfinden?«
    River schüttelte den Kopf. »Ich habe nie in meinem Leben auch nur einen Fuß nach Texas gesetzt.«
    Neely schlug mit der Faust auf den Tisch. » Hör endlich mit deinen verdammten Lügen auf. «
    »Ich schwöre dir, Neely. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich. Bin. Noch. Nie. In. Texas. Gewesen. Du bist mein Bruder , Neely. Wenn du mir nicht mehr glaubst, wer dann?«
    »Ich möchte dir ja glauben, River. Du weißt gar nicht, wie gern ich dir glauben würde. Verdammt, ich liebe dich. Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Aber du bringst mich noch um. Ich finde das, was du tust, abstoßend. Hörst du, River? Abstoßend! So abstoßend, dass ich irgendwelche fremden Leute blutig prügeln muss, um nicht verrückt zu werden. Das alles macht mich krank. Krank . Manchmal habe ich das Gefühl, durchzudrehen, komplett durchzudrehen … und das jagt mir eine Scheißangst ein, River. Ich habe Angst.«
    Rivers Blick wanderte von seinem Bruder zu mir und wieder zurück, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der so verletzt und bitter und scharf war wie die Rasierklinge, mit der Daniel Leap sich die Kehle aufgeschlitzt hatte. »Wisst ihr was?«, sagte er, nachdem einen kurzen Moment lang Schweigen geherrscht hatte. »Fahrt zur Hölle. Alle beide.«
    Und dann ging er.
    Ich wollte ihm hinterherlaufen, aber Neely stellte sich mir in den Weg. »River muss jetzt eine Weile für sich sein. In ein paar Stunden ist er wieder ganz der Alte. So läuft es immer ab, wenn wir uns sehen.«
    Am Türrahmen lehnend, sah ich River hinterher, bis er in dem kleinen Wäldchen verschwunden war. »Ich habe auch einen Bruder«, sagte ich mit Blick zum Schuppen. »Ich kenne mich mit Geschwisterstreitereien aus.«
    Neely sah mich an, als würde er mich zum ersten Mal wirklich wahrnehmen. Er lächelte. Die Röte war fast vollständig aus seinem Gesicht gewichen und mir fiel wieder seine gebrochene Nase auf.
    »Freut mich, dich kennenzulernen, Violet White«, sagte er. »Ich bin Cornelius Redding, Spross der milliardenschweren Redding-Dynastie, und ich habe ein aufbrausendes Temperament und einen Bruder, der