Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
zurückgekehrt. Jetzt saßen wir auf dem Bett und ließen die Briefe zwischen uns hin- und herwandern, während wir sie immer wieder lasen.
»Ich glaube schon«, sagte ich, aber meine Stimme klang belegt. Ich räusperte mich.
»Dein Vater heißt auch John«, sagte Sunshine und sah mich forschend an, als versuche sie herauszufinden, was ich als Nächstes tun würde – ob ich wüten und toben und Dinge an die Wände schmeißen würde. Dabei wusste ich, dass sie wusste, dass ich das nicht tun würde.
»Ich weiß, wie mein Vater heißt, Sunshine.«
»Und dieser John war anscheinend Künstler, genau wie dein Dad und du und Luke. Ihr seid alle Künstler.«
»Ich weiß . Na und?«
Sunshine warf resigniert die Hände in die Luft. »Versteh einer die reichen Leute.«
Ich schaute sie von der Seite an, aber der gleichgültige Ausdruck auf meinem Gesicht muss ziemlich fragwürdig ausgesehen haben, weil sie nämlich mit den Schultern zuckte, aufstand und wortlos zur Tür ging.
Doch dann blieb sie noch einmal stehen, drehte sich um und sah mich eine Weile schweigend an. Ihr Gesicht war … traurig … und nachdenklich, und ganz anders als sonst. »Vi …«, sagte sie zögernd. »Ich glaube, du solltest nachschauen, ob Freddie noch mehr Briefe versteckt hat.«
Ich nickte.
Und sie ging
So wie sie gerade hatte Freddie mich manchmal angesehen. Traurig. Nachdenklich. Vor allem, wenn sie sich Sorgen machte, weil Luke mich ärgerte oder ich ihn hasste oder meine Eltern zu lange wegblieben.
Ich ging in den Ballsaal, saß dort, bis die Sonne unterging, unter dem Bild meines Großvaters Lucas und hätte geweint, wenn ich es mir erlaubt hätte.
Aber das tat ich nicht.
Einundzwanzigstes Kapitel
An diesem Abend war wieder eine Filmvorstellung im Park.
Luke und Jack waren nach wie vor im Schuppen und malten. Ich hätte gern mit ihnen über die beiden Briefe gesprochen, aber irgendetwas hielt mich davon ab.
Außerdem war ich mir sicher, dass es noch weitere Briefe gab.
Nur wo?
Hing irgendwo in unserem Haus noch so ein schwarzes Kruzifix?
River blieb weiterhin verschwunden, was dazu führte, dass ich einen seltsamen Schmerz zu spüren begann. Aber ich wusste nicht, was er zu bedeuten hatte, und versuchte, ihn zu ignorieren.
Sunshine lud uns alle zum Abendessen ein. Ihre Eltern hatten Brathähnchen mit köstlichen selbst gezogenen Kartoffeln und Crème fraîche gemacht. Luke und Jack nahmen die Einladung an, ich blieb zu Hause. Mir war nicht nach Essen in fröhlicher Runde. Ich wollte lieber auf der Vortreppe sitzen und aufs Meer schauen, und genau dort fand mich Neely schließlich.
»Hast du Lust, dir einen alten Film anzuschauen?«, fragte ich.
»Klar«, antwortete er.
Ich packte für Neely und mich einen Picknickkorb, so wie River ihn für uns beide gepackt hatte, als Casablanca gelaufen war. Trotzdem war diesmal alles anders. Jetzt gab es einen Teufel, einen Geist, einen Mann, der in den Selbstmord getrieben worden war, und dreiundzwanzig tote Menschen in einem Ort namens Rattlesnake Albee irgendwo im Nirgendwo.
Ich war kurz davor, Neely von dem zu erzählen, was River Sunshine hatte sehen lassen, als wir auf dem Weg in die Stadt am Tunnel vorbeikamen. Aber dann ließ ich es doch. Ich nahm an, dass Neely entweder darüber gelacht hätte oder so wütend geworden wäre, dass er sich mit irgendjemandem angelegt hätte. Allerdings wusste ich nicht, was schlimmer gewesen wäre.
»Dann ist River also schon öfter abgehauen?«, fragte ich, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren.
»Jep.« Neely nahm mir den Picknickkorb ab.
»Und du musst ihn jedes Mal zurückholen?«
»Jep.«
»Und dann streitet ihr euch, und er verschwindet eine Zeit lang, und anschließend kehrt ihr dann wieder zusammen nach Hause zurück?«
»Genau so läuft es.« Er warf mir einen Blick von der Seite zu. »Er wird nicht hierbleiben, Violet. Ich weiß nicht, was er dir alles erzählt hat, aber er wird nicht bleiben. Er bleibt nie lange an einem Ort. Auch nicht zu Hause.«
Ich versuchte den Eindruck zu erwecken, als wäre mir das egal, was mir nicht so gut gelang, wie man hätte meinen sollen, wenn man bedenkt, dass ich River in gewisser Weise hasste.
»Du bist jedenfalls sein erstes Mädchen, falls dich das irgendwie tröstet.« Offenbar hatte er meinen Ausdruck richtig gedeutet. Er blieb stehen, griff nach meiner Hand, drehte sie, beugte sich darüber und küsste die Innenfläche.
Ich hielt überrascht die Luft an. Die
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