Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
zaubern kann und ein Mörder ist.« Er lachte.
Ich fiel in sein Lachen mit ein. Wir standen uns gegenüber und – trotz allem, was gerade geschehen war – lachten, und der Meereswind wehte mir Neelys Duft in die Nase. Er roch nach Kamillenshampoo, frisch gewaschener Kleidung, Waldboden und Mitternacht.
Nein … nicht nach Mitternacht. Nach Mittag. Nach helllichtem Tag.
Nach Sonne, nicht nach Sternen.
Zwanzigstes Kapitel
»Was treibst du so?« Sunshine riss die Tür auf und kam in mein Zimmer. Anscheinend hatte alle Welt beschlossen, dass Anklopfen etwas war, worauf man verzichten konnte. »Luke und der Kleine malen«, redete sie weiter, bevor ich überhaupt Zeit gehabt hatte, etwas zu antworten. »Ich hab von dem neuen Typ gehört, der ins Gästehaus gezogen ist, und bin rübergekommen, um zu sehen, ob er mich gern kennenlernen möchte, aber es war niemand da. Und mir ist langweilig. Also dachte ich, ich schau mal bei dir rein. Was ist das da auf deinem Nachttisch? Ein Frosch? Ein Frosch aus einem Hundert-Dollar-Schein?«
»Nachdenken«, beantwortete ich ihre erste Frage. »Ich liege hier bloß so rum und denke nach.« Ich schob meine Beine ein Stück zur Seite, damit Sunshine sich ebenfalls aufs Bett setzen konnte, aber sie stellte sich vor meinen langen Spiegel und bewunderte lieber ihre Brüste und ihre langen braunen Haare. »Und ja, das ist ein Origami-Frosch. Das ist schon der zweite gefaltete Geldschein, den er mir gegeben hat. Ich bin nicht besonders stolz darauf.«
Wenn man etwas laut ausspricht, wird es wahr.
Sunshine schüttelte nur den Kopf. »In letzter Zeit sind mir alle möglichen Dinge über dich zu Ohren gekommen, Violet. Du schläfst in Rivers Bett. Und jetzt das hier.« Sie deutete auf den Frosch. »Wow.«
»Ich glaube, er macht sich Sorgen, mir könnte das Geld ausgehen und ich könnte mir nichts mehr zu essen kaufen oder so.«
»Die Sorge ist ja auch berechtigt.« Sunshine schleuderte ihre langen Haare nach hinten und drehte sich zu mir um. »Aber dir Frosch-Geld auf den Nachttisch zu legen, ist trotzdem … merkwürdig.«
Ich hatte keine Lust, über River zu reden. Seit ich mit Neely gelacht hatte, hatte sich irgendetwas in mir gelöst. Ich wusste nicht genau, was es war, aber seitdem fühlte ich mich … besser. Klarer. Und jetzt, wo River mir nicht mehr im Kopf herumgeisterte, konnte ich endlich über andere Dinge nachdenken. Zum Beispiel über Freddie und über Jacks Ölgemälde und über das seltsame Gefühl, das mich überkommen hatte, als ich ihn und Luke einträchtig nebeneinander im Schuppen hatte malen sehen, und das mich erneut überkommen hatte, als ich River und Neely beim Kaffeetrinken beobachtet hatte.
Ich setzte mich auf. »Freddie hat mir mal einen Rat gegeben. Sie hat sich damals gerade für das Weihnachts-Dinner zurechtgemacht – das wir selbst zubereitet hatten, weil wir aus Geldmangel schon seit ein paar Monaten keine Köchin mehr bezahlen konnten – und schlüpfte in ein altes, eng anliegendes schwarzes Kleid. Irgendwie kam sie mir vor, als wäre sie in Gedanken weit weg und traurig. Nicht weil uns das Geld ausging, das war ihr egal. Sondern weil sie vielleicht eine Ahnung hatte, dass es ihr letztes Weihnachten sein könnte. Und genauso war es dann auch.«
Ich musste meine Tränen wegblinzeln, bevor ich fortfahren konnte. »Sie bürstete sich vor dem Spiegel die Haare, und ich sah ihr dabei zu und war völlig davon gefangen genommen, wie schön ihr schwarzes Kleid zu dem hinter ihr an der Wand hängenden Kruzifix passte, und dachte, dass es sicher ein hübsches Motiv wäre, wenn das Kleid an einem Haken neben dem Kreuz an der moosgrünen Wand hängen würde. Ich überlegte gerade, ob ich versuchen sollte, es als Stillleben zu malen, als sie plötzlich die Bürste hinlegte, sich zu mir umdrehte und sagte: Bewahre deine Briefe immer an einem geheimen Ort auf, Vi. Bewahre sie an einem geheimen Ort auf, aber achte darauf, dass er nicht so geheim ist, dass deine Liebsten sie nach deinem Tod nicht finden können. «
Sunshines feine Brauen schnellten in die Höhe und jetzt kam sie doch zum Bett und setzte sich neben mich.
»Seitdem suche ich nach ihren Briefen«, sagte ich. »Ich muss sie finden, Sunshine. Und zwar schnell. Ich … ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, dass das wichtig ist.«
»Falls du Hilfe beim Suchen brauchst, ich hab gerade sowieso nichts Besseres zu tun.« Sunshine sprang auf, ging zur Kommode, zog die Schubladen ganz heraus
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