Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
vermeiden würde.«
»Acht. Acht Städte. Mit Archer neun, aber Archer zählt eigentlich nicht, weil dort noch nicht mal jemand gestorben ist.«
Neely lachte wieder. Diesmal war sein Lachen dunkler und hatte einen bitteren Unterton. »Ach, die Städte ohne Todesopfer zählen also nicht? Gut zu wissen. Herrgott, River. Ich weiß nicht, ob ich dich von deinen Qualen erlösen oder dich bewundern soll.«
Demnach war River also schon öfter einfach abgehauen, hatte sich irgendwo niedergelassen, und beinahe jedes Mal waren Menschen zu Tode gekommen. Ich spürte einen schmerzhaften Stich, als würde mir jemand einen Eiszapfen ins Herz rammen … dabei war es ein ziemlich warmer Morgen. Ratlos blickte ich zwischen den beiden Jungen hin und her und fragte mich, was zur Hölle ich mir da nur eingebrockt hatte.
River legte Neely eine Hand auf den Arm. »Diesmal habe ich alles unter Kontrolle. Das kannst du mir glauben.«
Neely schüttelte die Hand seines Bruders ab. »Das sagst du jedes Mal.« Als River gesagt hatte, Archer würde nicht zählen, hatte ich bemerkt, wie seine Wangen sich röteten, aber jetzt glühte sein ganzes Gesicht.
River presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Sein Kiefer war so angespannt, dass sich in seinen Mundwinkeln Grübchen bildeten. Und seine Augen … das letzte Mal, als Rivers Augen so schmal geworden waren, hatte sich ein Mann das Leben genommen.
»Provozier mich nicht, Cornelius. Du weißt, dass das nie gut ausgeht.«
»Der Einzige, der mich Cornelius nennen darf, ist Dad«, gab Neely mit gepresster Stimme zurück. Das Lächeln war aus seinen Augen verschwunden. Es war unheimlich, den beiden Brüdern beim Streiten zuzuhören, und gleichzeitig faszinierend. Ich fühlte mich wie eine Verbalvoyeurin.
»Apropos Dad – wie geht es ihm so? Und wie ist es für dich, ständig den braven Sohn spielen zu müssen? Wird dir das nicht langsam langweilig?« River und Neely maßen sich einen Moment lang mit finsteren Blicken. Dann änderte sich Rivers Gesichtsausdruck plötzlich und er wurde ernst. »Ich versuche, damit aufzuhören, Neely«, sagte er. »Ich versuche es wirklich. Aber wenn ich nach Hause zurückkehre, geht alles wieder von vorn los. Außerdem habe ich mich verändert … Meine Gabe hat sich verändert …«
»Du versuchst, damit aufzuhören, ja?« Neely stieß ein kurzes Lachen aus. »Das gelingt dir ja bestens, River. Du schaffst es, dass jeder Ort, an den du kommst, innerhalb weniger Stunden in Chaos versinkt.« Er schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Dann öffnete er sie wieder und sah mich an. »Frag ihn mal, wie es in Rattlesnake Albee war.«
»Was ist in Rattlesnake Albee passiert, River?«, sagte ich leise, weil mir noch, während ich die Frage stellte, klar wurde, dass ich die Antwort nicht wirklich hören wollte. Ich wollte hinunter zum Strand laufen und erst wieder zurückkommen, wenn ich herausgefunden hatte, wie ich Freddie von den Toten auferstehen lassen konnte.
River ging zur Theke, schraubte die Espressokanne auf, leerte den Filtereinsatz und füllte ihn mit fein gemahlenem schwarzen Kaffeepulver. »In Rattlesnake Albee ist nichts passiert«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Neely übertreibt mal wieder maßlos. Das ist bloß ein winziges Kaff irgendwo in der Prärie, durch dass ich irgendwann mal durchgefahren bin. Ich fand es lustig, die Einwohner glauben zu lassen, sie würden wie in einem dieser alten Western von Indianern angegriffen werden. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass jeder Bürger in dieser verdammten Stadt eine Waffe bei sich getragen hat?«
Neely musterte seinen Bruder mit zusammengekniffenen Augen. »Jeder einzelne der dreiundzwanzig Einwohner. Tot. In nur einer Stunde. Und du findest, dass ich maßlos übertreibe? Wie würdest du es denn formulieren?«
»Es hat keine Unschuldigen getroffen, Neely. Dort haben nur alte Leute gewohnt, die es an Grausamkeit mit den Bösewichten in einem Shakespeare-Stück hätten aufnehmen können. Ich war gerade mal fünf Minuten dort, als ich mitbekam, wie ein Mann sein Pferd mit einer Peitsche schlug und eine Frau eine Katze aus einem Fenster im dritten Stock warf. Über der Kirche hing ein Schild, auf dem stand: Jedes Weib ist des Teufels Geliebte, jedes Kind sein Unterpfand. Und einmal im Jahr haben sie ein Fest zu Ehren der Pest abgehalten, weil sie die Welt angeblich von Unrat befreit hat. Muss ich noch mehr von dem aufzählen, was ich dort erlebt habe? Ich habe der
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