Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
hatte. »Ich würde sie nämlich gern alle lesen«, beendete er den Satz schließlich leise.
»Nein, andere habe ich nicht gefunden.« Ich sah ihn prüfend an. »Warum interessierst du dich dafür?«
Der seltsame Ausdruck verschwand und River lachte leise. Sein Lachen klang weich und sanft wie eine Sommerbrise und so anders als das Gelächter, das ich auf dem Dachboden gehörte hatte, so vollkommen anders, dass ich mir plötzlich ganz sicher war, dass das unmöglich River gewesen sein konnte.
Aber … wer sonst?
Und dann kam mir ein Gedanke, der so übermächtig war, dass er sämtliche anderen Gedanken – die an die Briefe und Daniel Leap und Rivers Westernträume – in den Hintergrund drängte.
Warum hatte es River überhaupt nicht interessiert, wer wirklich auf dem Dachboden gewesen war und Gianni dazu gebracht hatte, Jack zu fesseln und anzuzünden? Er hatte mir keine einzige Frage gestellt. Warum nicht?
Eine grausame kleine Stimme in mir flüsterte, dass es einen guten Grund dafür geben könnte. River hatte mir schließlich gesagt, dass das Funkeln manchmal bewirkte, dass die Leute sich hinterher nicht mehr erinnern konnten, was passiert war. Traf das vielleicht auch auf ihn selbst zu? Konnte er sich auch nicht an das erinnern, was er getan hatte?
Womöglich hatte er sich bereits selbst im Verdacht und wollte deswegen nicht darüber sprechen.
Ich war auf einmal unglaublich müde und fühlte mich alt und erschöpft. So als wäre ich ein billiger Groschenroman, aus dem etliche Seiten herausgerissen worden waren und der höchstens noch dazu taugte, dazu benutzt zu werden, ein Kaminfeuer anzuzünden. Vor ein paar Tagen hatte mein Leben noch daraus bestanden, auf Sunshines Veranda zu sitzen, Eistee zu trinken und darüber nachzugrübeln, woher ich ein bisschen Geld für Lebensmittel auftreiben könnte. Und jetzt hatte ich es mit River und seinem Funkeln zu tun, mit Teufeln und einem durchgedrehten Jungen, der vorgehabt hatte, ein kleines Kind auf einem Dachboden zu verbrennen.
Wo war mein Leben hin?
»Heute schlafe ich in meinem eigenen Zimmer.« Ich fand es schrecklich, dass meine Stimme so leise und verloren klang. »Dir ist hoffentlich klar, dass ich dich verdammt einfach davonkommen lasse. Also denk noch nicht einmal daran, jemanden zu berühren. Vor allem nicht Luke, Sunshine oder Jack. Geh ins Gästehaus zurück und leg dich schlafen. Das ist mein Ernst.
»Geh nicht, Violet«, sagte er. »Bitte. Das Gewitter …«
Aber ich ging. Ich ging zur Treppe und verließ den Dachboden, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Vierundzwanzigstes Kapitel
Obwohl es schon weit nach Mitternacht war, beschloss ich, zu versuchen, noch ein bisschen zu lesen. Ich holte mir sieben Bücher aus der kleinen Bibliothek und breitete sie um mich herum im Bett aus. Am Ende schlug ich keines davon auf. Nicht einmal den tausend Seiten umfassenden Roman mit den unzähligen Fußnoten, der von zwei Zauberern im London des 19. Jahrhunderts handelte und zu meinen Lieblingsbüchern gehörte.
Stattdessen saß ich da, schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit und spielte mit den Fransen am Lampenschirm auf meinem Nachttisch.
Irgendwann begann es in meinem Nacken zu kribbeln.
Ich stand auf, warf mir eine gelbe Stola von Freddie über die Schultern und schlüpfte aus dem Zimmer.
Als ich vor der Tür zu Lukes Zimmer stand, hörte ich von drinnen Sunshines Stimme und leises Rascheln und Atmen. Wann hatten Luke und Sunshine angefangen, sich des Küssens wegen zu küssen und nicht, um mich zu ärgern?
Plötzlich war es mir unangenehm, hier zu stehen und etwas zu belauschen, das ausnahmsweise nicht für meine Ohren bestimmt war. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Und auf einmal erkannte ich, dass ihr ständiges Flirten, Herumknutschen und Einander-Begrapschen schon die ganze Zeit einen viel ernsteren Hintergrund gehabt hatte. Dass sie es taten, um mich zu nerven, war nur eine Ausrede gewesen. Die beiden mochten sich. Luke und Sunshine waren verliebt ineinander.
Ziemlich fassungslos drehte ich mich um.
Allerdings zögerte ich dann doch noch einen Moment. Ich hatte keine Lust, in mein Zimmer zurückzukehren, meine Bücher anzustarren und mich beobachtet zu fühlen. Ohne dass ich es geplant hätte, setzten sich meine Füße wie von selbst in Bewegung und schlugen den Weg zum Dachboden ein.
River war nicht mehr dort, und ich wusste nicht, ob ich darüber erleichtert war oder nicht.
Während ich in die dunklen Schatten spähte, hatte
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