Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Ich habe gesehen, wie sie ins schwarze Wasser stürzte und darin verschwand.«
Freddie war auch vor fünf Jahren gestorben. Ich wusste, was es bedeutete, sich nach jemandem zu sehnen, und kannte mich mit dem Tod aus. »Das tut mir leid«, sagte ich und meinte es aufrichtig so.
»Sie hat oft zu mir gesagt, dass ich nicht so sein müsse wie er. Wie mein Dad, meine ich. Sie sagte, dass ich mitfühlend sein soll, auch Menschen gegenüber, die es nicht verdient haben. Neely kommt nach ihr. Ich nicht. Ihr Tod hat ihn schwer getroffen. Danach fing er an, sich zu prügeln. Eine Zeit lang prügelte er sich jeden Tag mit irgendjemandem.« River lehnte sich seufzend in die Couch zurück. »Aber nicht er wurde dafür bestraft, sondern ich.«
Ich schwieg. Ich berührte ihn nicht und ließ nicht zu, dass er mich berührte.
»Ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter spürte ich zum ersten Mal das Funkeln in mir.« River sprach mit geschlossenen Augen weiter. »Und dann machte ich eine Riesendummheit. Ich hatte wirklich die besten Absichten, aber du weißt ja selbst, dass es manchmal anders kommt als geplant.«
Er öffnete die Augen, seufzte noch einmal und schloss sie dann wieder. »Es war am Geburtstag meines Vaters. Dad hat meine Mutter geliebt, wirklich geliebt, trotz seiner vielen Affären und der hübschen jungen Frauen, die sich ihm wegen seines Geldes an den Hals warfen. Meine Eltern kannten sich schon von Kindheit an und in der Highschool verliebten sie sich ineinander. Als sie starb, wäre er vor Kummer fast selbst gestorben. Und an seinem Geburtstag kam mir dann eine Idee, die ich – dumm und naiv, wie ich damals war – großartig fand. Er saß in seinem Arbeitszimmer in der Sonne und starrte an die Wand. Ich ging auf ihn zu, legte ihm eine Hand auf die Schulter und ließ ihn meine Mutter sehen. Ich ließ sie ihn … lange sehen. Sehr lange. Bis er weinte. Erst danach zog ich meine Hand wieder weg.«
Der nächste Donnerschlag hallte durch die Nacht und River zuckte erneut zusammen. Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. »Als er begriff, was ich getan hatte, schlug er mich. Er nahm einen Briefbeschwerer von seinem Schreibtisch und schlug damit so heftig auf mich ein, dass er mir zwei Rippen brach.«
In Rivers Stimme lag nicht der leiseste Hauch von Selbstmitleid. Er hörte sich so ungerührt an, als würde er ein Kochrezept vorlesen oder jemandem eine Wegbeschreibung geben.
Die Regentropfen trommelten auf das Dach, als versuchten sie sich Einlass zu verschaffen.
»Und obwohl mein Vater mich krankenhausreif geschlagen hatte, zwang er mich dazu, es noch mal zu tun«, fuhr River fort. »Ich musste es immer und immer wieder tun, bis er fast den Verstand verlor vor Schmerz darüber, meine Mutter so strahlend und lebendig zu sehen wie am Tag vor ihrem Tod. Aber das war nicht das Einzige, was ich tun musste. Wann immer sich ihm von dem Tag an jemand widersetzte, musste ich denjenigen für ihn bestrafen. Ich gab mir Mühe, ihn zufriedenzustellen, aber ihm war es nie genug. Den ersten Menschen tötete ich, weil mein Vater es so wollte. Ich brachte einen Mann dazu, sich selbst zu töten – genau wie Jacks Vater. Und warum? Weil er es gewagte hatte, das Angebot eines William Redding auszuschlagen. Dad hat eine Schwäche für guten Pinot, und der Typ besaß einen Weinberg, den er ihm abkaufen wollte. Er war Italiener, hatte die Reben als junger Mann aus seiner Heimat mitgebracht und weigerte sich, zu verkaufen. Tja, dreimal darfst du raten, wer am Ende gewonnen hat. Der nette, unnachgiebige Weinbauer ging vor die Hunde und William Redding II besitzt jetzt seinen eigenen Weinberg. Und ich bin derjenige, der ihm dazu verholfen hat, verdammt noch mal.«
Ohne nachzudenken – ohne an das Funkeln zu denken –, breitete ich die Arme aus und zog ihn an mich. Wir blieben sehr, sehr lange so sitzen, bis das Gewitter verhallt war und der Wind schließlich nachließ.
River blinzelte und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemds über die Augen. »Mein Vater will, dass ich nach Hause zurückkehre, weil er süchtig nach meiner Gabe geworden ist. Es verlangt ihn immer wieder danach, meine Mutter zu sehen, obwohl es ihn in den Wahnsinn treibt. Er kann sie nicht gehen lassen. Ich schwöre, es ist schlimmer als eine Droge. Ich weiß, dass Neely denkt, ich wäre derjenige, der ein Problem hat, aber mein Vater ist noch viel schlimmer dran. Wie hieß diese Geschichte noch mal, die du uns erzählt hast? Eine Rose für
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