Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

ich wieder das Gefühl, beobachtet zu werden – genau wie vorhin in meinem Zimmer, in der Küche und in der Villa der Glenships.
    Wenigstens ertönte diesmal kein unheimliches Gelächter.
    Mein Blick fiel auf den schwarzen Schrankkoffer, und mir wurde klar, dass er der Grund gewesen war, warum es mich noch einmal hierher gezogen hatte. Ich kniete mich davor auf den Boden und ließ die Schnallen aufklappen. Dann nahm ich die leere Ginflasche, die rote Karte und die weißen Kleider heraus und legte sie neben mich. Und ganz unten lag es.
    Ich griff nach dem schwarzen Kruzifix und schob den Rücken zur Seite, worauf mehrere zerknitterte, dünne Papierbogen zu Boden flatterten. Es waren insgesamt fünf Briefe.
    Als ich beim ersten nachsah, wer ihn geschrieben hatte, rechnete ich damit, wieder Johns Namen zu lesen, aber dieser hier stammte von jemand anderem. Einem gewissen Will. Ich begann die Briefe mit angehaltenem Atem nacheinander zu lesen …
    11. Januar 1928
    Liebe Freddie,
    wie kannst du nur davon reden, ihn heiraten zu wollen? Das kann nicht dein Ernst sein. Lucas ist liebenswürdig und verlässlich, aber ihr seid nicht füreinander geschaffen. Ja, ich weiß, dass er dir ein très grande Haus am Meer errichtet hat, aber du wirst nie dort leben. Ausgeschlossen. Du bist doch noch so jung. Wir alle sind doch noch so jung. Praktisch Kinder.
    Werde nicht erwachsen, Freddie.
    Darum bittet dich
    dein Freund
    Will
    18. Februar 1928
    Freddie,
    heirate mich.
    Niemand kennt mich so gut wie du. Du warst da, als es das erste Mal passierte. Als es brannte.
    Wir haben uns damals dort unten in dem Keller in Manhattan unsere Unschuld geschenkt, während über uns die Party tobte. Bis heute denke ich jedes Mal an dich, wenn ich über mir Schritte höre.
    Wir haben uns immer alles gesagt. Wir haben uns alles gegeben. Ich weiß, wie deine Antwort ausfallen wird. So wie sie immer ausfällt.
    Also schön, dann heirate mich nicht. Aber wenn du schon nicht mich nimmst, dann nimm wenigstens Chase. Er besitzt zumindest Leidenschaft, Mut und Herz. Er hat die Welt bereist, ist ein kluger, amüsanter Gesprächspartner und hat versucht, Joyce zu lesen. Seine Eltern vergöttern dich. Sie sind nie wieder dieselben gewesen, seit Alexandras tödlichem Sturz vom Baumhaus. Die Familie könnte etwas von deiner charmanten Leichtigkeit gebrauchen und von deinem Lachen und deiner Lebensfreude. Bitte tu mir den Gefallen und heirate Lucas nicht. Er wird dich langweilen und du wirst ihn betrügen. Erspare ihm das. Erspare es dir.
    In Liebe
    Will
    10. Juni 1929
    Liebe Freddie,
    es ist nicht so, wie du denkst.
    Es ging mir schon besser. Ich hatte mich wieder unter Kontrolle. Nachdem die Kirche abgebrannt ist, hast du mir das Versprechen abgenommen, es nie wieder geschehen zu lassen. Und das habe ich versucht. Das habe ich wirklich. Es sollte eine einmalige Ausnahme sein.
    Rose. Und Chase. Ich bin mir sicher, dass du es gewusst hast. Unsere Familien kennen sich schon seit Jahren und Rose war bereits als kleines Mädchen in ihn verliebt. Ich nehme an, es hat so kommen müssen. Ich hätte darauf vorbereitet sein sollen. Aber als ich die beiden dann in seinem Schlafzimmer erwischte, war es dennoch ein Schock. Herrgott, sie war doch erst sechzehn.
    Die beiden … sie taten einander nicht gut. Rose war zu sensibel, zu unschuldig für einen Schwerenöter wie Chase. Ich konnte nicht fassen, dass er sie tatsächlich verführt hatte. Ich war so unglaublich wütend. Bitte glaub mir, dass ich ihm nur vorgaukeln wollte, sie hätte ihn betrogen, damit er sie in Ruhe lässt und endlich freigibt …
    Ich wollte ihn so weit bringen, dass er keine Liebe mehr für sie empfand …
    Das Klappmesser habe ich ihm selbst zu seinem vierzehnten Geburtstag geschenkt. Für unsere Angelausflüge, um damit Netze, Köder und Fische zu schneiden.
    Stattdessen hat er damit die Kehle meiner Schwester durchschnitten.
    Ich werde es sein lassen. Für immer.
    Weißt du noch, wie wir einmal auf dem Dachboden der Villa der Glenships Opium geraucht haben, nachdem Chase gesagt hatte, dass du dich das sicher nicht trauen würdest. Du konntest natürlich nicht anders, als ihm das Gegenteil zu beweisen. Das, was ich erlebe, wenn es geschieht, ist schlimmer als ein Opiumrausch, Freddie. Viel schlimmer. Ich muss vielleicht für eine Weile von hier fortgehen. Aber ich werde darüber hinwegkommen.
    Ich liebe dich, Freddie. Für immer und immer und immer.
    William
    15. Dezember 1942
    Liebe Freddie
    du bist