Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Selbstmörder bestattet hatte. Ganz in der Nähe stand ein halb zerfallenes kleines Backsteingebäude, in dem früher die Gerätschaften des Friedhofwärters aufbewahrt worden waren. In der Gruft lagen Freddie, mein Großvater, ein verrückter Großonkel und zwei bedauernswerte kleine Säuglinge, die Freddie tot gebar, bevor sie meinen Vater zur Welt brachte.
Die Friedhofsverwaltung sorgte dafür, dass die Gruft der Glenships in vorzeigbarem Zustand gehalten wurde, weil sie in der Nähe des Eingangs stand. Unsere war dagegen mit Efeu und Brombeerbüschen überwuchert, deren Früchte wie stachelbewehrte Blutegel wirkten. Es war, als wolle die Natur sich zurückholen, was einst ihr gehörte. Als ich die Gruft jetzt vor mir sah, erschrak ich darüber, wie vernachlässigt sie war. Der Verfall war greifbar, beinahe beklemmend. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal hier gewesen war. Wann überhaupt irgendjemand das letzte Mal hier gewesen war. Bei Freddies Beerdigung? War das wirklich schon so lange her?
Plötzlich bekam ich ein unglaublich schlechtes Gewissen. Warum hatte ich mich nicht besser um Freddies Grab gekümmert?
Vielleicht hatte ich die Nachlässigkeit von meinen Eltern geerbt. Zusammen mit dem künstlerischen Talent und der Vornehmtuerei.
Das ist schon in Ordnung, Violet, ertönte Freddies Stimme in meinem Kopf. Ich mag mein Grab so, wie es ist. Vergessen und verlassen.
Und es stimmte, dass Freddie ein Faible für alles Vergessene und Verlassene gehabt hatte – für Geisterstädte, verrostete Autos auf Schrottplätzen oder Windmühlen mit beschädigten Flügeln auf brachliegenden Feldern.
So besaß sie zum Beispiel eine Sammlung von Schlüsseln, die zu Gebäuden gehört hatten, die in Echo niedergebrannt waren. Es waren insgesamt elf, die alle ziemlich ähnlich aussahen, bis auf einen, der viel größer war als die anderen. Er hatte zu einer alten Holzkirche gehört, die ein verrückt gewordener Pfarrer in Schutt und Asche gelegt hatte. Freddie bewahrte die Schlüssel in einem rosafarbenen Taschentuch auf und zeigte sie mir in einer lauen Sommernacht, als wir beide nicht schlafen konnten. Ich erinnerte mich noch gut an die Glühwürmchen, an den Rosenduft des Taschentuchs, an die schwüle Nachtluft, die Ingwerlimonade und Freddies weiche, faltige und vertraute Hände.
Ich zog eine Efeuranke zur Seite, um die über dem Eingang in den Stein gemeißelte Inschrift freizulegen. Die Buchstaben leuchteten im Mondlicht so verschnörkelt, als stammten sie aus Bruchtal in Tolkiens Mittelerde.
»Ist das Elbisch?«, fragte River prompt.
» Mea Culpa. Die Sünde hat die Engel selbst betört. Exuro, Exuro, Exuro. « Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und fuhr mit den Fingern über die Worte. » Mea Culpa heißt meine Schuld , aber das wisst ihr vermutlich. Der Satz in der Mitte stammt aus Shakespeares ›Heinrich VIII. ‹. Und die Worte am Ende heißen Ich brenne, ich brenne, ich brenne. Freddie hat die Inschrift vor Jahrzehnten einmeißeln lassen, mir aber nie gesagt, was sie zu bedeuten hat. Ich musste selbst ein bisschen in der Bibliothek recherchieren und das Latein übersetzen, aber inzwischen glaube ich zu wissen, was Freddie damit sagen wollte. Sie …
»Sie wollte sagen, dass es ihr leidtut«, ergriff Neely zum ersten Mal an diesem Abend das Wort. Er sah in seiner zerknitterten Leinenhose und der Windjacke süß und zerzaust aus. »Sie bereut die Sünden, die sie begangen hat. Und Exuro bedeutet, dass sie in der Hölle brennt.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete ich heftig. Ich war mir sicher, dass Freddie nicht in der Hölle brannte.
Als ich prüfend an dem Schloss rüttelte, mit dem der Eingang zur Gruft gesichert war, rieselten kleine Rostpartikel zu Boden. Einen Schlüssel gab es nicht, aber ich nahm an, dass man es mit einem Stein aufbrechen konnte.
Dann kam mir ein anderer Gedanke … vielleicht waren die Namen derjenigen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten, an der Außenwand angebracht und bloß unter den dichten Ranken verborgen.
Ich ging um die Gruft herum und schob den Efeu beiseite.
Tatsächlich. Der erste Name, der sichtbar wurde, war der von True White. Der Name meiner Tante – des kleinen Mädchens, das ertrunken war. Der Geist, den River heraufbeschworen hatte, um Luke Angst einzujagen. Die Tochter, deren Tod Freddie in Gottes Arme getrieben hatte. Und in die des Teufels.
Doch die Inschrift, auf die wir alle starrten, bezog sich nicht auf True, sondern
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