Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Tauben gurrten und eine Krähe, die in den Baumwipfeln saß, stieß ihr heiseres Krächzen aus, während ein paar Wolken an der Sonne vorbeizogen, sodass der tote Junge jetzt komplett im Schatten lag. Ich hätte ihm gern geholfen, ihn bequemer hingelegt, ihn …
»Hey, du.«
Für einen Moment, einen entsetzlichen, wahnwitzigen Moment, glaubte ich, der tote Junge hätte mit mir gesprochen. Eine Hand auf mein Herz gepresst, beugte ich mich vor, starrte in sein Gesicht und wartete darauf, dass sich etwas darin bewegte.
Plötzlich kribbelte es in meinem Nacken.
Ich drehte mich um.
Da stand ein Junge, ein lebendiger Junge, keine drei Meter von mir entfernt im Schatten der Bäume. Er war vielleicht vierzehn, aber größer als ich und kam mir irgendwie vage bekannt vor. Er war schlaksig, schien nur aus spitzen Ellbogen und Knien zu bestehen und hatte schulterlange rote Haare. Rot wie die sprichwörtliche Morgenröte, die einem Sturm vorausgeht. Rot wie Feuer. Rot wie Blut.
Er trug schwarze Cowboystiefel, enge, teuer aussehende schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt. Seine grünen Augen blickten groß und staunend.
Er deutete mit dem Kinn auf die Leiche. »Tja. Ist ein ziemlich …«, er räusperte sich, »ziemlicher übler Anblick.« Er hatte einen leichten Südstaatenakzent, der aber nicht nach tiefem Süden klang. »Bin drübergestolpert, während ich den vorbeifahrenden Zügen zugeschaut hab. So bin ich hergekommen. Mit dem Zug. Ich schau ihnen gern hinterher, den Zügen, meine ich. Manchmal fahre ich auch mit.«
Ich starrte ihn an. Ich unterdrückte ein Zittern und versuchte nicht panisch zu werden. »Wie lange stehst du schon hier?«
Lass ihn bitte nicht gehört haben, wie wir über River gesprochen haben. Bitte, lieber Gott, dachte ich, obwohl ich ohnehin vorhatte, die Polizei zu verständigen, weshalb es eigentlich egal war.
»Höchstens ein paar Minuten. Ich wohne in Echo. Wollte gerade in die Stadt laufen und Hilfe holen, als ich dich und das Kind gesehen hab, deswegen hab ich mich zwischen den Bäumen versteckt und erst mal abgewartet.« Er streckte mir die Hand hin. »Brodie.«
»Violet.« Ich schüttelte seine Hand, die knochig war, aber sein Griff war kräftig. »Du heißt also Brodie? Ich glaube nicht, dass wir … oder sind wir uns schon mal begegnet? Bist du gerade erst hierhergezogen?«
Er nickte so eifrig, dass seine roten Haare hin und her schwangen und seine Ohren dazwischen hervorblitzten. Sie standen ein bisschen ab, was ihn noch jünger aussehen ließ. »Ich bin aber erst seit ein paar Tagen in Echo.« Er bückte sich und hob einen schwarzen Cowboyhut vom Boden auf. Als er ihn sich aufsetzte, verschwand der größte Teil seiner roten Haare so blitzartig wie eine verlöschende Glühbirne. »Ich komme aus Texas.«
Jetzt wusste ich, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. An dem Hut erkannte ich ihn wieder. Er war der Junge, der auf der Schaukel gesessen hatte, als Daniel Leap sich umgebracht hatte.
Erst als die Sonne wieder zwischen den Wolken hervorkam und sich das Gesicht des toten Jungen aus dem Schatten herausschälte, wurde mir auf einmal bewusst, dass ich hier höfliche Konversation mit einem Jungen aus Texas machte, während direkt zu meinen Füßen eine Leiche lag.
»Aus Texas kommst du also, aha …«, sagte ich zerstreut, weil meine Gedanken wieder um River kreisten und darum, dass ich im Begriff war, ihn zu verraten. Ich fragte mich, was mit ihm passieren und wie ich damit zurechtkommen würde. »Tut mir leid, ich … ich muss dringend nach Hause und telefonieren …«
»Was dagegen, wenn ich mitkomme?« Brodie nahm seinen Hut ab und hielt ihn in der Hand. »Du willst wahrscheinlich die Polizei rufen, oder? Ich könnte mit dir auf sie warten und ihnen dann erzählen, was ich gesehen hab. Ich würde dir gern helfen. Du siehst ein bisschen blass um die Nase aus, wenn ich ehrlich sein darf. Ich habe schon mal tote Jungs gesehen. In Texas sind Leichen nicht so selten. Bin also schon ein bisschen abgehärtet, was das angeht.«
Ich war in Gedanken Lichtjahre entfernt und setzte mich wortlos in Bewegung, um zur Stadt zu gehen. Brodie folgte mir, aber ich hatte nichts dagegen. Er schien ein netter, höflicher Junge zu sein, also konnte er genauso gut mitkommen und der Polizei seine Version der Geschichte erzählen.
Um nicht am Park vorbei zu müssen, wo ich womöglich jemanden getroffen hätte, ging ich durch einsame Seitenstraßen, Richtung Klippe. Ich wollte niemandem erklären,
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