Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
warum meine Beine schlammverschmiert und meine Haare nass waren, warum ich so blass aussah und von einem Jungen namens Brodie begleitet wurde. Hätte mich jemand angehalten und gefragt, was los ist, hätte ich mit Sicherheit sofort alles verraten. Was es mit River auf sich hatte, dem Funkeln, dem Teufel, dem toten Jungen. Alles.
Gut möglich, dass Brodie unterwegs versuchte, sich mit mir zu unterhalten. Ich erinnere mich nicht.
Als wir in Citizen Kane ankamen, rührte sich dort nichts, und es herrschte Totenstille. Ich ging zum Schuppen, weil ich annahm, dass ich Luke dort malend vorfinden würde, aber er war nicht da. Auch im Gästehaus war alles ruhig. Als ich mein Ohr an die Tür legte und nach Frühstücksgeräuschen lauschte – dem zischenden Gurgeln des Espressokochers, in der Pfanne brutzelnden Eiern, Neelys und Rivers streitenden Stimmen – hörte ich nichts.
In der Luft lag eine bedrohliche Spannung, als würde sich ein Sturm zusammenbrauen. Dabei war der Himmel vollkommen klar und kein Lüftchen regte sich. Trotzdem brachte irgendetwas meine Haut zum Kribbeln und gab mir das Gefühl, beobachtet zu werden.
Ich sah mich um. Da war nichts und niemand.
»Keine Ahnung, wo die alle sind«, sagte ich. »Das ist … seltsam.«
Brodie lächelte bloß und zuckte mit den Achseln.
Während ich zum Haupthaus zurückging, spielte ich mit dem Gedanken, mich einfach wieder ins Bett zu legen und alles zu vergessen, was ich gesehen hatte. Den toten Jungen mit den blutverklebten Haaren. Daniel Leap, der sich mit der Klinge den Hals aufschlitzt. Ich hätte das alles so gern vergessen.
Aber dann dachte ich an Brodie mit seinen roten Haaren und dem trägen texanischen Akzent.
Er hatte die Leiche ebenfalls gesehen.
Es gab keine Chance, so zu tun, als wäre nichts passiert.
»Wartest du kurz hier?«, sagte ich zu ihm. »Ich laufe schnell zu unseren Nachbarn rüber, um zu telefonieren. Ist einfacher, wenn du hierbleibst.«
»Alles klar.« Brodie tippte sich an seinen schwarzen Cowboyhut und deutete dann auf seine Füße, als wolle er mir damit zu verstehen geben, dass er sich nicht von der Stelle rühren würde.
Ich holte tief Luft und machte mich auf den Weg zu den Blacks.
Sunshine saß nicht wie sonst auf der Veranda. Im ersten Moment nahm ich an, dass sie noch schlief, aber dann fiel mir ein, dass es schon recht spät war und sie genau wie Luke eine Frühaufsteherin war. Ich hatte keine Ahnung, was Frühaufsteher nach dem Frühstück so machten, weil ich nur dann früh aufstand, wenn mich bei Tagesanbruch ein ernst blickender Junge weckte, der mir eine Leiche neben den Bahngleisen zeigen wollte.
Die Tür stand offen. Ich klopfte ans Fliegengitter, wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern trat einfach ein.
Sunshines Eltern standen im Wohnzimmer. Sam, mit seiner Cordhose und wie immer ein bisschen verloren wirkend, und Cassie mit ihrer dicken runden Brille und den zu einem Dutt hochgesteckten schwarzen Haaren. Die beiden schauten auf etwas, das zu ihren Füßen am Boden lag.
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was da am Boden lag. Sunshine. Blut sickerte aus einer Wunde oberhalb ihrer Schläfe, rann über ihr Gesicht und tropfte auf die Holzdielen.
Als sie mich sah, öffnete sie den Mund und versuchte, etwas zu sagen, aber heraus kamen nur blutige Spuckebläschen.
»Vielleicht musst du noch mal zuschlagen«, meinte Cassie nachdenklich. »Siehst du? Sie bewegt sich immer noch.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass Sam einen Baseballschläger in der Hand hielt. Wieso hatte ich ihn nicht gleich bemerkt? Seit wann besaßen Sunshines unsportliche, büchervernarrte Eltern überhaupt einen Baseballschläger? Sunshine streckte die Hand nach meinen nackten Zehen aus. Ich wollte ihr helfen – natürlich wollte ich ihr helfen –, aber ich war wie gelähmt. Ich versuchte zu schreien, doch es kam kein Laut aus meinem Mund. Sunshines Hand erschlaffte … und ich sah Blut und Haare auf Sams Baseballschläger kleben … wie konnte es sein, dass ich das alles nicht gesehen hatte, als ich reinkam … Sunshine … das viele Blut … den Baseballschläger …?
Ich begann zu zittern und stieß einen stummen Schrei aus.
Jetzt bemerkte Cassie mich.
Sie lächelte. In ihren Augen lag ein seltsam starrer Ausdruck, der mich an die Augen des toten Jungen neben den Gleisen erinnerte. »Ach! Hallo, Violet. Möchtest du ein Glas Eistee? Das ist vielleicht ein Morgen, du meine Güte! Wir hatten eine Ratte im Haus. Aber Sam hat ihr
Weitere Kostenlose Bücher