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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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wischte mir mit dem Hemdzipfel die Tränen aus den Augen.
    »Ich hab keine Angst vor dir«, sagte ich.
    Mein Grandpa sah zu mir rüber und schaute dann wieder auf die Straße. Er holte seine Zigarettenpackung aus der Hemdtasche und nahm eine raus und steckte sie sich in den Mund. Er drückte den Anzünder rein und wartete, dass er wieder raussprang.
    »Musst du auch nicht«, sagte er. »Du musst keine Angst vor mir haben.«

9
    Mein Grandpa hielt vor unserem Haus und blieb dann einfach sitzen und schaute zur Veranda rüber, als hätte er das Haus noch nie gesehen. Ich sah an ihm vorbei durch das offene Fahrerfenster zu dem Schatten der Scheune, der sich Richtung Anhöhe auf der anderen Seite des Hofes neigte. Als ich genauer hinschaute, sah ich eine Schar winziger Lichter im Dunkeln herumfliegen.
    »Guck dir die ganzen Glühwürmchen an«, sagte mein Grandpa. Er sah mich an. »Willst du eins fangen?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich will bloß reingehen.«
    Ich und Stump hatten andauernd Glühwürmchen gefangen und sie in Mamas Weckgläser getan, aber sobald sie da drin waren, schlugen sie bloß noch mit den Flügeln gegen das Glas. Dann fingen sie an, komisch zu riechen, und schwups waren sie gestorben. Daddy meinte, sie würden deshalb so schnell sterben, weil sie in den Weckgläsern keine Luft kriegten, und er zeigte uns, wie man mit Nägeln Löcher in die Deckel machte, damit sie nicht erstickten. Es war einfach zu anstrengend, jetzt daran zu denken, und ich hatte keine Lust, mich mit ihnen abzugeben, vor allem nicht ohne Stump. Er war sowieso derjenige gewesen, der sie gern fing. Er machte gern in unserem Zimmer das Licht aus und stellte das Weckglas mitten auf unser Bett und kniete sich hin und starrte es an und wartete darauf, dass das Glühwürmchen darin anfing zu glühen. Manchmal kniete ich mich auf der anderen Seite des Bettes hin und schaute durch das Weckglas auf Stumps Gesicht. Seine Augen und seine Nase und sein Mund hatten dann ganz unterschiedliche Größen, und nach einer Weile war es so, als würde ich ihn durch eine Lupe anschauen. Er kniete da vor dem Bett, als würde er beten, und wartete, dass das Glühwürmchen endlich glühte, und wenn es dann so weit war, konnte ich ihn durch das Glas in dem gelblichen Licht, das sich über seine Wangen ausbreitete, so gerade eben lächeln sehen.
    »Dein Gesicht sieht komisch aus«, sagte ich dann zu ihm, aber er kniete einfach nur vor dem Bett, beobachtete das Glühwürmchen und wartete, dass es wieder glühte.
    Letztes Jahr Weihnachten, als ich in der zweiten Klasse war, brachte unsere Lehrerin Miss Bryant uns bei, wie man Weihnachtsbaumschmuck aus Ton und Pfeifenreinigern bastelte. Sie sagte, wir sollten so etwas für jemanden in unserer Familie basteln, um demjenigen zu zeigen, wie lieb wir ihn hatten. Ich überlegte, für Mama ein Kreuz zu basteln, aber das wäre zu leicht und zu mickrig gewesen und hätte an einem großen dicken Baum nicht viel hergemacht. Ich wollte für Daddy einen Traktor basteln, aber das war zu schwierig. Ich beschloss, ein Glühwürmchen zu basteln und es Stump zu schenken, weil er sich doch so gern welche ansah. Ich rollte ein Stück von dem Ton aus, bis es ungefähr so lang war wie mein kleiner Finger und bloß ein bisschen dicker. Und dann bog ich aus zwei Pfeifenreinigern die Flügel und steckte sie vor dem Trocknen in den Ton. Am nächsten Tag, als es schön trocken war, tunkte ich das Hinterteil in ein bisschen gelbe Farbe. Ich fand, es sah richtig hübsch aus, und Miss Bryant fand das auch.
    Mama kriegte sich gar nicht mehr ein vor Freude, als ich damit nach Hause kam, und dann hängte sie das Glühwürmchen an unseren Weihnachtsbaum, sobald Daddy ihn im Wohnzimmer aufgestellt hatte. Ich zeigte Stump, wo es am Baum hing, und obwohl er es nicht anfassen wollte, stand er lange da und schaute es sich genau an. Ich streckte die Hand aus und stupste es an, und es schwang an dem Zweig hin und her, als würde es herumfliegen.
    »Findest du, es sieht wie ein Glühwürmchen aus?«, fragte ich Stump, aber natürlich sagte er nichts.
    Aber es war noch vor Weihnachten vom Baum verschwunden. Ich fragte Mama, wo es sein könnte, aber sie hatte es nicht gesehen. Ich schätzte, dass Stump es wahrscheinlich abgenommen und irgendwo in unserem Zimmer versteckt hatte. Er versteckte andauernd Sachen, die ihm gefielen, und Sachen, die ihm gehörten. Wenn man seine Schubladen aufmachte oder unter sein Kopfkissen schaute, konnte man alle möglichen

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