Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
Vom Netzwerk:
erwarten, die es nie an meiner Seite gegeben hatte. Ich habe fast mein ganzes Leben allein gelebt, bis auf die Jahre oben auf dem Parker Mountain mit meiner Großtante, bevor sie mich vom Berg runter in die Stadt schickte.
    Als ich klein war, lebte ich immer nur bei ihr in der alten Hütte, wo es im Winter nach trockenem Laub und Lavendel roch und im heißen Sommer nach feuchter Erde und Bergamotte. Sie war eine Geschichtenerzählerin von Gottes Gnaden, und wenn sie auf einer Steppdecke, die sie sich über den Schoß gebreitet hatte, Bohnen putzte, ließ sie manchmal meine toten Eltern wieder so lebendig werden, als wären sie nur kurz in den Hof gegangen, um nachzusehen, ob es Regen gibt. Meine einzige Erinnerung an meine Mama ist ein dünner Schatten, der vom Kerzenlicht an die Hüttenwand geworfen wird, und in meinem Kopf ist mein Daddy ein schwarzer Schatten, der auf einem Stoppelfeld die Sonne verdunkelt. Aber meine Großtante brachte sie mir zurück und machte mir das Leben von Menschen verständlich, die vor mir da gewesen waren.
    Ihr Gedächtnis war scharf wie ein Messer. Sie konnte sich genau erinnern, in welchem Jahr sie die beste Burley-Tabakernte gehabt hatten, und sie kannte die Namen und die Familien von so ziemlich allen, die auf dem Parker Mountain lebten, obwohl die meisten von ihnen nicht das Geringste mit uns zu schaffen hatten. Während sie bei Kerzenschein unermüdlich einen Maiskolben nach dem anderen enthülste, zählte sie mir manchmal die Namen von sämtlichen Tieren auf, die ihr Daddy und ihr Granddaddy auf ihren Farmen gehabt hatten. Und ich saß neben ihr und half ihr bei der Arbeit und hörte ihr bis in die Nacht hinein zu, so lange, wie sie mich aufbleiben ließ. Ich war für mein Alter bloß ein kleines, schmächtiges Ding, und sie war der älteste Mensch, den ich kannte, und ich dachte, sie wäre der älteste Mensch, der je gelebt hatte.
    1919 war das Jahr, in dem ich auszog, das Jahr, in dem sie mich wegschickte. Es war später Frühling, und der Boden hatte nichts Essbares hergegeben, und wir hatten weiß Gott kein Geld und auch nichts zum Tauschen. Damals hatte kaum einer genug, um über die Runden zu kommen.
    »Du musst von diesem Berg runter und in die Stadt und dir Arbeit suchen«, sagte sie. »Wir haben nicht genug, um den Sommer zu überstehen, und außerdem wird es Zeit, dass du dich auf eigene Beine stellst. Andere Mädchen in deinem Alter sind schon verheiratet und haben ein oder zwei Kinder und ein eigenes Stück Land.«
    Ich war vierzehn, und ich wusste es nicht besser. Ich dachte bloß, sie wollte mich loswerden. Ich wusste nicht, dass wir wahrscheinlich beide gestorben wären, wenn ich den Sommer über geblieben wäre.
    Ich musste mich nun entscheiden zwischen Marshall, der Bezirksstadt, Burnsville drüben in Yancey County und Asheville. Tja, ich war schon ein- oder zweimal in Marshall gewesen, und es hatte außer dem Amtsgericht und ein paar Futtermittelläden und dergleichen nicht viel zu bieten. Burnsville stellte ich mir auch nicht viel besser vor, und mittlerweile weiß ich auch, dass der Weg dahin lang und anstrengend geworden wäre. Ich entschied mich für Asheville, und eins können Sie mir glauben, auch wenn es Sie vielleicht überrascht, aber weiter als Asheville bin ich mein Lebtag nie von Madison County weg gewesen. Ich habe einfach nie einen Grund dafür gehabt, weiter fortzugehen.

    Aber ich weiß noch, wie ich an einem Samstagabend in jenem Frühling in die Stadt kam. Entlang des French Broad River schlugen die Bäume aus, und der Mann, der mich auf seinem Fuhrwerk von Weaverville mitgenommen hatte, zeigte auf das braune Wasser und sagte: »Vor drei Jahren hatten wir hier eine Überschwemmung.« Und ich blickte zum Ufer rüber und sah ein paar von den Marktgebäuden und Lagerhäusern, die der Fluss arg ramponiert hatte, als er so über die Ufer getreten war und Äste und Abfall und haufenweise anderes Zeug flussabwärts mitgeschleppt hatte.
    Wir kamen von Norden her in die Stadt, und ich wollte meinen Augen kaum trauen, als wir mit dem Wagen über den Markt auf der Lexington Avenue fuhren, wo alles Gemüse und Obst aussah, als wär’s gerade frisch geerntet worden, und die vielen Flittchen geschminkt und gepudert darauf warteten, dass die Farmerjungs ihre Stände zumachten und ihre Pferdewagen packten und mit ihnen ein bisschen Zeit verbrachten, ehe sie wieder zurück aufs Land mussten. Wir fuhren da mitten durch, und mir wurde richtig schwindelig vom

Weitere Kostenlose Bücher