Fürchtet euch
der ersten Hütte, die bewohnt aussah. Als ich näher kam, sah ich eine Frau draußen auf dem Feld.
»Ma’am«, rief ich, »entschuldigen Sie die Störung.« Ich blickte zur anderen Seite des Feldes und sah einen alten Mann aus der Scheune kommen. Er wirkte überrascht, dass ein Mädchen wie ich allein oben bei ihnen auftauchte. Die Frau sah ihn an, und dann bückte sie sich und arbeitete weiter. Der alte Mann kam so langsam auf mich zu, dass ich dachte, er würde es niemals schaffen.
»Was willst du?«, fragte er, sobald er nah genug war. Er hatte eine alte Nickelbrille auf, und durch die Gläser konnte ich sehen, wie müde seine Augen aussahen, als hätte er sein ganzes Leben in die Sonne geblinzelt.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte ich wieder. »Ich wohne ein Stück weiter oben, bei meiner Tante …«
»Ich weiß, wer du bist«, sagte er. Ich schloss rasch den Mund, und er blickte mich bloß an. Dann wandte er den Kopf und spuckte einen braunen Schwall Tabaksaft ins Gras neben seinen Schuh.
»Also, ich bin gestern Abend von Asheville zurückgekommen und habe sie tot gefunden. Ich wollte fragen, ob ich vielleicht …«
»Woran ist sie gestorben?«, fragte er.
»Ich weiß nicht genau«, sagte ich. »Ich denke, es könnte diese Grippe gewesen sein. Aber ich kann’s mir nicht erklären. Sie wissen ja bestimmt, dass die Leute hier auf dem Berg nicht besonders viel mit ihr zu tun hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sich angesteckt haben soll, wenn sie keiner besucht hat, wo sie doch keine Freunde hatte.« Er blickte kurz zu Boden, und dann spuckte er noch einmal einen Schwall Saft aus und rieb ihn mit der Schuhspitze ins Gras. »Ich muss mir Werkzeug ausborgen, um was zu bauen, worin ich sie beerdigen kann«, sagte ich.
Er blickte vom Boden auf und sah rüber zu seiner Frau auf dem Feld. Sie hatte ihre Arbeit unterbrochen und beobachtete uns, als hätte sie aus der Entfernung hören können, worüber wir redeten.
»Ich habe Geld«, sagte ich. »Ich kann bezahlen, wenn es sein muss.« Er sah mich an.
»Das ist nicht nötig«, sagte er. »Geh nach Hause und bereite sie vor. Wir kommen morgen früh mit dem Sarg.« Er drehte sich um, und ich sah ihm nach, wie er zurück zur Scheune ging. Die Frau starrte mich vom Feld aus an. Ich winkte ihr.
»Vielen Dank!«, rief ich.
Ich legte mich im Hinterzimmer schlafen und ließ meine Großtante in dem Bett am Kamin. In der Nacht hatte ich einen Traum, wie ich ihn mein ganzes Leben noch nicht gehabt hatte. Und auch danach habe ich nie wieder einen Traum so klar in Erinnerung behalten.
Der Abend dämmerte, und ich ging vom Tiefland, wo der Fluss sich nach Osten Richtung Tennessee schlängelt, den Berg hinauf. In dem Traum trug ich eine Art Taufgewand, das so lang war, dass es hinter mir durch den dunklen schwarzen Schlamm schleifte. Ich kann mich glasklar erinnern, wie ich nach unten schaute und sah, dass der Saum noch ganz nass war, weil ich im Fluss gewesen war. Es sah aus, als wäre ich bloß bis zu den Knöcheln ins Wasser gegangen und hätte es mir dann anders überlegt und wieder kehrtgemacht, weil ich im Traum keine Erinnerung daran hatte, in das kalte Wasser getaucht worden zu sein. Keine Erinnerung an irgendwelche Gebete, die über mir gesprochen worden waren, und es hallten mir auch nicht die Ohren von dem Bekenntnis zum Glauben wider, das wahrscheinlich von mir erwartet worden war.
Ich wusste zuerst nicht, wo ich mich befand, aber die Sonne war hinter dem Berg versunken, den ich hochging, und das ganze Land da draußen war vollkommen still. Mit dem Fluss im Rücken, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass jemand hinter mir war, dass mir jemand dicht auf den Fersen den Berg hinauffolgte. Ich blieb stehen und drehte mich um, und ich konnte hören, wie mein Gewand über das Gras schleifte, und ich konnte spüren, wie meine nackten Füße auf den nassen Baumwollsaum traten. Als ich nach hinten schaute, sah ich Jesus. Er hatte ein blaues Gewand an, das von der Taille abwärts pechschwarz aussah, weil es klatschnass war, und ich wusste, dass er da draußen im Wasser auf mich gewartet hatte und ich aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, nicht zu ihm zu gehen.
Ich war mir einigermaßen sicher, dass es Jesus war, weil er genauso aussah, wie er immer beschrieben wurde: olivbraune Haut, sanfte braune Augen, hellbraunes Haar. Doch in meinem Traum war er viel älter, als man ihn aus Bilderbibeln kennt oder von Gemälden, wie sie schon mal in einer
Weitere Kostenlose Bücher