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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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Kirche hängen. In meinem Traum war er viel älter, als sie ihn werden ließen. Ich konnte die Spuren der Jahre um seine Augen sehen, und sein Bart hatte graue und weiße Stellen, und als er vom Fluss auf mich zukam, hinkte er leicht, als würde ihm die Hüfte oder das Bein weh tun. Ich stand einfach da und sah ihn näher kommen, und als er in Hörweite war, rief er mir etwas zu.
    »Warum bist du stehen geblieben?«, wollte er wissen.
    »Weil ich nicht wusste, dass du da draußen warst«, erwiderte ich.
    »Doch, das wusstest du«, sagte er. »Du hast es bloß vergessen. Aber geh weiter, ich folge dir jetzt.« Ich stand einfach da und wusste nicht, was ich sagen sollte, und Jesus winkte mit der Hand, als wollte er mich verscheuchen. »Geh weiter«, sagte er. »Es ist alles in Ordnung. Ich habe dir doch gesagt, ich folge dir.«
    Ich drehte mich wieder zum Berg um, und im selben Moment spürte ich etwas Schweres in den Händen. Ich schaute nach unten und sah, dass ich einen Teller mit einer Serviette darüber hielt, die fettdurchtränkt war, und als ich die Serviette hochhob, sah ich ein großes Stück heißes Brathähnchen. Plötzlich spürte ich jemanden an mir vorbeigehen, und als ich aufblickte, sah ich, dass es eine Frau war, die genauso ein langes weißes Gewand trug wie ich. Als ich ihr ins Gesicht sah, kam es mir so vor, als wäre sie jemand, den ich früher mal gekannt hatte. Auch sie hielt einen Teller in beiden Händen, und neben ihr ging ein Mann, der eine Gitarre über die Schulter gehängt hatte, und er hatte in einer Hand ein Tamburin und in der anderen einen Krug. Als ich mich umschaute, sah ich, dass das ganze Tiefland voll war mit Leuten, die Gewänder anhatten und in der zunehmenden Dämmerung Essen und Instrumente den grasbewachsenen Hang hinauftrugen. Nicht einer von ihnen sagte ein Wort, nicht einer von ihnen machte irgendein Geräusch. Sie sahen aus wie Geister oder Gespenster, und dann auf einmal schwante mir, dass sie vielleicht Engel sein könnten. Jesus trat neben mich, und wir standen da und schauten zu, wie sie alle an uns vorbeigingen, und ich spürte, wie das Brathähnchen unter der Serviette abkühlte und der Teller in meinen Fingern kälter wurde.
    »Geh weiter«, sagte Jesus wieder. »Ich bin direkt hinter dir.«
    Ich stapfte weiter den Berg hoch, obwohl ich wusste, dass ich die vielen Leute nie würde einholen können, aber ich wusste auch, dass es keine Rolle spielte, denn es war Totengedenktag und wir gingen rauf zu den Gräbern. Ich wusste, dass sie, wenn ich oben auf dem Berg ankam, bereits das Essen ausgebreitet und den süßen Tee ausgeschenkt hätten und Lieder singen würden. Ich schaute hoch zum Gipfel, den die Ersten schon erreichten, und bei ihnen war eine Frau, und als ich genauer hinsah, erkannte ich meine Großtante. Sie schau- te zu mir herunter und lächelte, als würde sie auf mich warten und wäre bereit, für immer auf mich zu warten. Sie sah nicht aus wie das kleine eingeschrumpfte Ding, das ich vor dem kalten Kamin gefunden hatte. Sie sah aufrecht und stark und glänzend wie ein Silberdollar aus. Ich wusste, ich würde aufwachen, ehe ich oben auf dem Berg ankam, wo sie auf mich wartete. Jesus wusste das wohl auch, denn ich konnte seinen Atem am Ohr spüren, so dicht ging er neben mir.
    »Sieh sie dir an, Addie«, flüsterte er. »So sieht Unsterblichkeit aus.«

    Am nächsten Morgen hörte ich den Mann und die Frau, bei denen ich tags zuvor gewesen war, mit einem Pferdewagen den Feldweg heraufkommen. Ich ging an die Tür und sah, dass der Mann eine große braune Stute am Zügel führte. Der Karren rumpelte hinter dem Tier her, und obendrauf stand der Sarg, den der Mann gezimmert hatte. Es war nicht viel mehr als eine rechteckige Kiste aus ein paar alten Brettern, aber ich war froh darüber.
    »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte ich, als sie vor der Hütte anhielten.
    »Schon gut«, sagte der Mann.
    »Wir sind froh, dass wir helfen können«, sagte die Frau. Der Mann lud die Kiste ab, und ich half ihm, sie in die Hütte zu tragen, wo ich meine Großtante auf dem Bett zurechtgemacht hatte.
    »Ich überlass das jetzt mal euch«, sagte er und ging wieder nach draußen. Die Frau half mir, meine Großtante in die Kiste zu legen, und ich zog ihr das Kleid gerade und strich es glatt. Sie war so leicht wie ein Kind. Ich hatte ihr am Abend vorher die Haare auseinandergeflochten und so gut ich konnte ausgekämmt, aber sie sah nicht mehr aus wie sie selbst. Es war, als

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