Fürchtet euch
hätten wir jemanden, den ich nicht kannte, in den Sarg gelegt, um ihn den Berg hoch zum Friedhof zu bringen, und ich rechnete jeden Augenblick damit, dass meine Großtante zur Tür hereinkam.
»Addie«, würde sie sagen, »was macht ihr denn da?«
Die Frau und ich standen da und schauten auf sie herunter, wie sie da in der Kiste lag. Es war ganz still im Raum, und ich konnte hören, wie das Pferd draußen auf dem Feldweg mit den Hufen scharrte.
»Wir lassen den Sarg besser auf, bis wir oben sind, sagte die Frau. »Odus nagelt ihn dann zu.« Sie ging raus, und ich hörte, wie sie draußen auf dem Weg mit ihrem Mann sprach. Er öffnete die Tür und kam herein.
Wir trugen den Sarg zusammen zum Karren, und als die Sonne auf das Gesicht meiner Tante fiel, sah ich zum ersten Mal, wie schlimm sie aussah. Ihre Haut war fast durchsichtig, so weiß war sie. Der Mann zurrte den Sarg auf dem Karren fest, und wir drei gingen den Weg hoch zum Friedhof. Sobald wir da waren, half ich beim Abladen, und die Frau holte die Seile, die sie mitgebracht hatten, um den Sarg in das Loch runterzulassen, das ich am Tag zuvor ausgehoben hatte. Der Mann hatte auch einen Hammer und ein Säckchen mit Nägeln dabei, um den Deckel zu verschließen.
Er zog den Deckel vom Karren und legte ihn auf den Sarg, und dann ging er auf die Knie und fing an, ihn zuzunageln. Bei jedem Hammerschlag hallte ein Knall durch die Eichen, der einfach kein Ende nehmen wollte – ein Geräusch wie ein Gewehrschuss, der über die Berge schallte. Als er fertig war, senkten wir meine Tante mit den Seilen ins Grab, der Mann auf einer Seite und die Frau und ich auf der anderen. Dann standen wir einfach da und blickten nach unten in das Loch.
»Willst du was sagen?«, fragte die Frau mich.
»Ich glaub, viel gibt’s jetzt nicht zu sagen«, erwiderte ich. Außerdem hatte ich das, was ich sagen wollte, schon in Gedanken zu meiner Großtante gesagt, und falls sie mir von da oben zuhörte, hatte sie es ohnehin gehört.
Nachdem ich sie tot und allein gefunden hatte, schwor ich mir, dass ich nicht in einer zugigen Hütte sterben würde, wo mich keiner finden würde außer den Viechern und vielleicht ein paar vorwitzigen Kindern. Ich dachte,
Addie, du wirst auf keinen Fall den Rest deines Lebens allein auf diesem Berg leben; du musst unter Menschen
, und so packte ich meine Sachen und ging, und seit 1920 lebe ich am Rande von Marshall. Das sind inzwischen gut sechzig Jahre.
13
Aber die Geschichte würde ich dem Sheriff nicht erzählen, weil sie für die Wahrheit, die er herausfinden musste, wie auch immer die aussah, keine Bedeutung hatte. Die Geschichte, die ihn interessierte, war die von Christopher in der Kirche, und die Geschichte konnte ich ihm nicht liefern. Aber wenn der Sheriff sich die Zeit genommen hätte, dann hätte ich ihm von dem genauen Augenblick erzählen können, an dem Christophers Geschichte begann, und wer weiß, vielleicht hätte er dann auch verstanden, wie sie Ben und Julie veränderte, wie sie ihre Ehe veränderte und sie beide dahin brachte, wo sie jetzt waren.
In der Nacht, als er geboren wurde, lag ich in meinem Bett und hörte wieder das Geräusch, das gleiche Geräusch, das klang wie eine Stimme, die von irgendwoher im Haus kam. Ich hielt den Atem an und spitzte die Ohren, und als ich schon dachte, ich hätte mir alles bloß eingebildet, hörte ich sie ganz deutlich.
»Wer ist da?«, rief ich und wartete. Ich hörte den Wind draußen heulen und Schnee gegen die Fenster klatschen, und dann rief mich eine leise Stimme von der Haustür. Ich konnte sie kaum hören bei dem Wind und dem Schnee, aber als ich sicher war, sie gehört zu haben, stand ich schnell auf. Gott, was war das für eine finstere Nacht, als ich zum Lichtschalter schlurfte und die Lampe anknipste, die das Schlafzimmer und einen Teil des Flurs erhellte.
Ich ging mit nackten Füßen im Nachthemd ins Wohnzimmer und rief: »Wer ist da?«
»Gott sei Dank, Addie, ich bin’s«, sagte die schwache Stimme hinter der Tür. »Nun mach schon auf, ehe ich noch erfriere.«
Ich erkannte die Stimme und öffnete die Tür, und der Wind riss mich fast um und blies den Schnee mit ins Haus. Gerty Norman stand da draußen in den Gummistiefeln ihres toten Mannes und der Arbeitsjacke von einem ihrer Söhne, in der sie beinahe ersoff. Zwischen dem Schal, der um ihr Gesicht gewickelt war, und einer warmen Männermütze, die sie sich tief in die Stirn gezogen hatte, konnte ich kaum ihre Augen
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