Fürchtet euch
konnte sie kaum durch den Schnee sehen.
»Weil du den Berg so oder so hochgehen wirst, das weißt du genau«, sagte sie. Ich wusste, dass da was dran war, deshalb sagte ich nichts mehr dazu.
Ronnie hatte seinen Pick-up in der alten Garage von seinem Daddy neben dem Haus stehen, und ich sagte zu Gerty, ich würde da drin warten, bis sie Ronnie aus dem Bett geholt hatte. Ich musste bestimmt zehn Minuten warten. Ich dachte schon, ich würde mir garantiert Frostbeulen holen, bevor der Junge mit dem Schlüssel kam, um den Motor anzulassen und die Heizung aufzudrehen. Ich sah, wie das Licht in seinem Zimmer anging, und stellte mir Gerty an seinem Bett vor.
»Steh auf, Ronnie«, sagte sie wahrscheinlich, ganz sanft. Sie verhätschelte den Jungen, viel mehr, als ich es täte, wenn ich eigene Kinder hätte. »Steh auf, Ronnie. Miss Lyle wartet draußen und holt sich Frostbeulen und ist womöglich schon tot, bevor du die Füße auf den Boden gesetzt hast.« Das hätte ich zu ihm gesagt, aber wie gesagt, er war ja nicht mein Sohn.
Aber nach einer Weile kam er dann. Ich drehte den Kopf und sah ihn durch den Schnee zur Garage stolpern, wie der Tod auf zwei Beinen. Ein kräftiger Junge, jedenfalls kräftiger als sein Daddy. Er trug seinen Overall und hatte seine Jacke darübergezogen. Eine Mütze trug er keine, und als er die Tür aufmachte und in den Pick-up kletterte, klebte der Schnee in seinen Haaren wie Popcorn.
»Guten Morgen, mein Lieber«, sagte ich, sobald ich neben ihm saß.
»Hey, Miss Lyle«, sagte er, mehr tot als lebendig.
Aber gütiger Gott, was war das für eine Fahrt. Der Jun- ge umklammerte krampfhaft das Lenkrad, und ich betete zu sämtlichen Engeln im Himmel, dass wir bitte nicht von der Straße in den Fluss oder den Wald oder in den Hof von irgendwem rutschten. Jeder, der uns durchs Fenster sah, muss uns für zwei tollkühne junge Draufgänger gehalten haben, die Mutter Natur herausfordern wollten.
Die ganze Fahrt über saß ich da und starrte nach draußen auf die dicken Schneeflocken, die gegen die Windschutzscheibe klatschten, und stellte mir vor, was Ben und Julie da oben in dem Haus so ganz allein durchmachten, wo ihr erstes Baby auf die Welt drängte. Ich hatte Julies Eltern nie kennengelernt, und Bens Mutter war vor Jahren weggelaufen, und besonders gut kann ich mich auch nicht an sie erinnern. Die beiden jungen Leute hatten nur noch seinen Daddy, und der war ein jämmerlicher Trunkenbold, der nie für sie da war.
Julie war ein hübsches Mädchen mit lockigen blonden Haaren und unglaublich heller Haut. So helle Haut ist eine Seltenheit in einer Gegend wie dieser, wo die Leute viel im Freien arbeiten. Aber ihre Haut war so hell wie bei einem Baby, und ich dachte mir, dass Ben sie keine allzu schwere Arbeit machen ließ, weil er sie so sehr liebte. Er war ein guter Junge, hatte noch nicht mit dem Trinken angefangen und war längst nicht so veranlagt wie sein Daddy. Sein Daddy war einfach ein schrecklich böser Mann. Ich dachte mir, nachdem ihm die Frau weggelaufen war, ließ er wahrscheinlich alle Bosheit, die er noch hatte, an Ben aus; aber sie waren sich trotzdem ähnlich.
Soweit ich weiß, kassierte Ben die schlimmsten Prügel von seinem Daddy, als der einmal von einer dieser Frauen in Hot Springs erfuhr, dass sein Sohn bei ihr gewesen war. Ich will nicht sagen, dass ich viel von dieser Sorte Frauen halte, aber man weiß nun mal, was man weiß, und hört, was man hört. Woher sie wusste, wie sie Jimmy Hall erreichen konnte, um ihm das mit seinem Sohn zu erzählen, kann ich nicht sagen, aber so schwer ist das wohl nicht zu erraten. Ben ging da noch zur Highschool, und er war ein ziemlich kräftiger Junge, ein guter Footballspieler. Er hat sogar ein paar Jahre an der Western Carolina gespielt. Aber das alles hinderte seinen Daddy nicht daran, ihn grün und blau zu schlagen, weil er sich mit Frauen wie Miss Lilian in Hot Springs eingelassen hatte. Man hätte meinen können, seinem Daddy wäre noch nie zu Ohren gekommen, dass ein Junge so was macht, aber alle Leute, die ich hier kenne, waren kein bisschen überrascht. Sie wussten, dass Jimmy Hall sich schon immer gut mit dieser Sorte Frauen ausgekannt hatte.
Kurz nachdem der Sohn vom Sheriff in seinem Montagetrupp den tödlichen Unfall hatte, verschwand Jimmy Hall vom Erdboden und ließ Ben ganz allein zurück. Das war vermutlich das Beste, was Ben passieren konnte. Er wollte ein anderer Mensch sein als sein Daddy, und ich sage Ihnen, bei
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