Fürchtet euch
erzählt hatte, Ben hätte versucht, Doc Winthrop anzurufen, damit er raufkommt und sich um Julie und das Baby kümmert, und ich hätte fast laut aufgelacht, als ich mir das vorstellte. Der alte Kauz war wahrscheinlich zehn Jahre älter als ich, und ich schätze, er war fast sein ganzes Leben lang betrunken. Ich war zwar bei meiner Großtante aufgewachsen, und die Frau war eine Heilerin wie sie im Buche steht, und ich selbst hatte nie vorgehabt, Leute zu verarzten, wenn sie krank wurden oder sich verletzt hatten, aber zum Glück hatte ich dann doch damit angefangen, denn auf den alten Winthrop war nun wirklich kein Verlass. Bevor das Krankenhaus gebaut wurde, gab es hier weder Krankenwagen noch sonst was, und das Einzige, was die Leute hier hatten, war ein sogenannter Landarzt. Und selbst als dann der ganze neumodische Kram kam, riefen die Leute ebenso oft mich oder Winthrop oder sonst wen, wenn sie Hilfe brauchten, um ein Baby zur Welt zu holen oder einen gebrochenen Arm zu richten oder eine Wunde zu nähen.
Wie das eine Mal, als Collie Avery in der Scheune von seinem Daddy beim Tabakaufhängen vom höchsten Balken gefallen war. Das müssen gut vierzig Fuß freier Fall gewesen sein. Alle, die dabei waren, dachten, er hätte sich wahrscheinlich das Rückgrat gebrochen, und ich glaube, sie hatten eine Heidenangst, ihn zu bewegen. Sein Daddy rief Doc Winthrop an und sagte, er müsste rauskommen.
Er sagte: »Wir bewegen ihn nicht, bis Sie da sind. Aber machen Sie schnell, er hat furchtbar schlimme Schmerzen.«
Winthrop sagte, er würde sich gleich auf den Weg machen, aber von wegen, der ließ sich nicht blicken, und die Leute haben fast den ganzen Tag gewartet und mussten mit ansehen, wie der Junge da in der Scheune auf der Erde lag und vor Schmerzen immer wieder das Bewusstsein verlor. Schließlich rief sein Daddy mich an.
»Ich weiß nicht, wo der alte Mistkerl Winthrop bleibt«, sagte der Daddy von dem Jungen, als ich ankam.
Der Junge hatte sich nicht das Rückgrat gebrochen, da war ich mir sicher. Aber er hatte sich bei dem Sturz einen schweren Beckenbruch geholt, und er musste gut einen Monat im Krankenhaus von Asheville bleiben, bis er wieder geheilt war, und ehrlich, er humpelt heute noch so schwer, dass es einem in der Seele weh tut. Ich glaube nicht, dass ich seitdem noch mal jemanden gesehen habe, der solche Schmerzen aushalten musste wie der Junge nach dem Sturz.
Und ob Sie’s glauben oder nicht, ich fand noch am selben Abend raus, wo Doc Winthrop abgeblieben war. Als einer der Brüder von dem Jungen mich nach Hause fuhr, überquerten wir die Brücke über den Laurel Creek draußen in Summey, und als ich runterschaute, sah ich den Pick-up von dem alten Kerl mitten im Wasser stehen.
»Halt mal an«, sagte ich zu dem Jungen.
Er parkte am Straßenrand, und dann schlitterten wir beide die Uferböschung hinunter und wateten durchs Wasser zu dem Wagen. Wir schauten rein und sahen Winthrop hinterm Lenkrad sitzen, wo er schnarchte, als läge er zu Hause im Bett. Er stank nach Schwarzgebranntem oder was auch immer er sich an dem Tag genehmigt hatte.
»Aufwachen, Winthrop!«, brüllte ich. »Sie sind mit Ihrem blöden Pick-up von der Brücke abgekommen.« Er machte ganz langsam die Augen auf, und dann blinzelte er ein paarmal, setzte sich auf und schaute sich um.
»Ja, sieht ganz so aus«, sagte er.
Er ließ den Wagen einfach da stehen. Die Brücke ist inzwischen neu, aber wenn Sie durch Summey fahren und den Laurel überqueren und übers Geländer schauen, sehen Sie den Pick-up da stehen. Es hängen Zweige drüber, und er ist fast ganz mit Moos bedeckt, aber ich schwöre Ihnen, er ist noch da. Doc Winthrop ist nun schon einige Jahre tot, aber sein Pick-up steht noch immer da im Wasser. Und wenn Sie mal in der Gegend sind und die Brücke überqueren und nach unten schauen, dann sehen Sie ihn.
Ben war kalkweiß im Gesicht, als er die Tür aufmachte, und er sah aus, als wäre er halb wahnsinnig vor Angst.
»Wer hat Sie hochgefahren?«, fragte er.
»Gertys Junge Ronnie hat es mit seinem Pick-up nicht weit geschafft«, sagte ich. »Ich bin fast den ganzen Weg zu Fuß gegangen.«
»Tut mir leid, dass ich Ihnen das zumute«, sagte er, »aber ich bin froh, dass Sie da sind.«
»Ist sie im Schlafzimmer?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er. »Sie hat schlimme Wehen. Ich hab ihr kein bisschen helfen können.« Ich hatte beschlossen, meinen Mantel vorläufig anzulassen, und ich ging rüber zum Kamin und streckte
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