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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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aufstieg und mir in Nase und Kehle drang, bis mir kotzübel wurde.
Ich könnte ihr was über Träume erzählen
, dachte ich.
Wie ich nachts wach werde von weißglühenden Funken, die zischend von den Zehen meines Sohnes aufsprühen, während die Spannung ihn am Kabel festhält. Aber das sind Träume, und bei Tageslicht gibt es keinen Platz für sie.
Jedenfalls nicht jetzt. Nicht hier.
    Ich blickte an meinen Erinnerungen vorbei und versuchte, mir Adelaide Lyles Gesicht zwanzig Jahre jünger und tränennass vorzustellen. Ich stellte mir vor, wie meine Arme von ihr schwer werden würden, genauso, wie sie von Sheila schwer geworden waren, und dass ihre Traurigkeit sich bis ins Mark meines Selbst fressen und eine leere Höhle zurücklassen würde, die nie wieder gefüllt werden könnte. Ich wusste, echten Verlust spürt man nicht, nachdem man einmal die Woche auf ein Kind aufgepasst hat, während seine Mama Kirchenlieder sang. Es braucht die Dauer eines Lebens, um das entsprechende Maß an Verlust zu empfinden. Alles darunter reicht nicht.
    »Haben Sie schon mit Pastor Chambliss gesprochen?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte ich. »Sie sind die Erste. Aber ich versichere Ihnen, ich werde ihm einen Besuch abstatten, sobald ich rausgefunden habe, wo er wohnt.«
    »Na, dabei könnte ich Ihnen vielleicht helfen«, sagte sie.
    »Dafür wäre ich Ihnen dankbar. Aber verraten Sie mir auch noch etwas anderes?«
    »Kommt drauf an, wonach Sie fragen wollen«, erwiderte sie. »Kommt drauf an, ob ich es weiß oder nicht.«
    »Nachdem Sie all die Jahre in die Kirche gegangen sind«, sagte ich, »und nachdem Sie so viel Zeit mit den Leuten da verbracht haben, was hat Sie bewogen, die Kinder da rauszunehmen?« Es wurde still im Haus, und ich ertappte mich dabei, dass ich die Augen zusammenkniff und den Kopf zur Seite wandte, als würde ich auf etwas horchen, das ich gar nicht hören konnte. »War Chambliss der Grund?«, fragte ich. Sie sah mich an, und dann nickte sie. »Was genau war der Grund? Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich ihm nichts sagen werde. Er muss nicht mal wissen, dass ich hier war.«
    Ich sah ihr an, dass sie über mein Ehrenwort, das ich soeben gegeben hatte, nachdachte, und ich wusste, dass sie sich fragte, ob ich es würde halten können oder nicht. Und anscheinend fand sie, dass ich das konnte.
    »Es ist nicht das erste Mal, dass so was passiert ist«, sagte sie.
    »Was meinen Sie mit ›nicht das erste Mal‹?«, fragte ich.
    »Es ist nicht das erste Mal, dass jemand in der Kirche gestorben ist«, sagte sie. »Und jetzt, wo ich hier sitze und es Ihnen erzähle, wird mir immer klarer, dass ich hätte versuchen müssen, sie davon abzuhalten, Christopher überhaupt erst mit in die Kirche zu nehmen. Ich weiß nicht, ob ich sie hätte aufhalten können, selbst wenn ich gewollt hätte, aber ich habe es nicht mal versucht. Und jetzt ist es zu spät.« Und dann sagte sie einen Namen, an den ich seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte: Molly Jameson.

17
    Ich musste zwei Tage suchen und mich umhören, aber am Donnerstagnachmittag fuhr ich raus nach Little Pine Creek im Township South Marshall, wo Chambliss von einem Diakon namens Phil Ponder ein altes Farmhaus gemietet hatte. Die zweispurige Straße führte am Fluss lang, und das Gelände weitete sich, als ich runter ins Tal fuhr. Man merkte, dass der Herbst nahte, denn die Blätter an den Bäumen oben auf dem Bergkamm tönte ein erster Hauch von Farbe. Ich fuhr an den zerklüfteten Felsnasen vorbei, bis ich ganz unten dem Fluss zu meiner Rechten folgen konnte. Ich überquerte eine schmale einspurige Brücke und gelangte dann über eine Schotterstraße zu einer Lichtung, wo ein kleines Haus und eine Scheune ein gutes Stück von der Straße entfernt standen.
    Ein alter, ramponierter Buick parkte in der Einfahrt, und ein noch älter aussehender Jagdhund war im Hof angekettet. Er heulte wie verrückt, als ich aus dem Wagen stieg, und ich blieb stehen und wartete, bis er schließlich aufhörte, den Schwanz einzog und sich hinhockte. Danach setzte ich meinen Hut auf und schaute mich um. Dann ging ich zur Veranda und sah, dass die Haustür sperrangelweit aufstand. Ich steck- te den Kopf ins Haus. Es war kühl und dunkel.
    »Hallo«, sagte ich. Ich wartete einen Moment, ob sich drinnen irgendwas tat. Direkt vor mir führte eine Treppe hinauf ins Dunkle. Rechts war ein Zimmer, wo ein Stuhl unter einen kleinen Tisch geschoben worden war. Auf dem Tisch verteilt lagen ein

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