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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiley Cash
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junger Mann hat mehr Feuer im Leib. Ein älterer Mann wie ich denkt vorher ein bisschen gründlicher nach.« Sie schaute weg, und ich saß da und starrte sie von der Seite an. Ich wusste, dass sie meine Augen auf sich spüren konnte. »Hat Ihnen jemand gesagt, Sie sollen nicht mit mir darüber reden?«
    »Ich lass mir von niemandem sagen, was ich tun soll«, entgegnete sie barsch. »Niemals. Ich war schon als junge Frau in der Kirche, und nicht ein einziges Mal habe ich mir von irgendwem sagen lassen, was ich zu tun habe.« Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und blickte sie einen Moment lang an, und dann sah ich weg und bemerkte, wie ordentlich ihre Küche war. Die glänzenden Utensilien, die über dem Herd hingen. Die saubere Fensterscheibe über dem Spülbecken, durch die das Sonnenlicht strömte.
    »Ich weiß, Sie haben Ihren eigenen Kopf«, sagte ich. »Und ich weiß, dass der Ihnen geraten hat, die Kinder aus der Kirche zu nehmen. Und deswegen weiß ich, dass es irgendeinen guten Grund geben muss, warum Christopher am Sonntagabend dort war. Ich glaube, die Leute könnten Ihnen gesagt haben, was das für ein Grund war.«
    »Die Leute haben mir erzählt, sie hätten versucht, ihn zu heilen«, sagte sie.
    »Und wie haben sie das angestellt?«, fragte ich. »Indem sie ihn erstickt haben?«
    »Es war ein Unfall«, sagte sie. »Und das wissen Sie genau.«
    »Glauben Sie, er musste geheilt werden?«
    »Nein, das glaube ich nicht«, sagte sie. »Aber es steht mir nicht zu, etwas darüber zu sagen, genauso wie es Ihnen nicht zusteht, darüber zu urteilen. Sie kannten den kleinen Jungen nicht. Sie wissen nicht, was er alles durchgemacht hat, wie manche Kinder ihn gepiesackt haben. Sie wissen nicht, was seine Familie all die Jahre durchgemacht hat.«
    »Ich weiß, dass er tot ist«, sagte ich. »Und ich weiß, dass sein Daddy nicht dabei war und dass seine Mama jetzt nicht hier ist, um meine Fragen zu beantworten. Das weiß ich, aber es reicht nicht aus, um Licht in die Sache zu bringen.«
    »Wir können nicht in alles Licht bringen. Das ist nicht unsere Aufgabe.«
    »Es ist meine Aufgabe, für möglichst viel Licht zu sor- gen, und ich bin gern bereit, Gott den Rest zu überlassen, wenn Sie das meinen. Aber manchmal brauch ich ein bisschen Hilfe. Deshalb bin ich hergekommen, um mit Ihnen zu reden.«
    »Ich wünschte, ich wüsste, wie ich Ihnen helfen kann«, sagte sie. Ich beugte mich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
    »Hat Carson Chambliss Ihnen gesagt, Sie sollen nicht mit mir reden?«
    Sie stand rasch auf und stieß ihren Stuhl zurück, und er machte ein schauderhaftes Geräusch, als er über den Holzboden schrammte. Sie ging zur Spüle und lehnte sich mit den Hüften dagegen und schaute zum Fenster hinaus. Sie stand mit dem Rücken zu mir, und ich stellte mir vor, wie ihre Augen über das Gras huschten und durch den Garten, während sie genau erfasste, welchen Tonfall meine Stimme bei der Frage angenommen hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. Ich sah, wie ihre Schultern herabsanken. »Die Leute sollen einfach wissen, dass sie mit mir reden können. Sie sollen sich sicher fühlen, weil ich rausfinden muss, was passiert ist.«
    »Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es wüsste«, sagte sie und drehte sich zu mir um. »Das kann ich Ihnen versichern. Ich mag ja eine alte Frau sein, aber ich lass mir von niemandem sagen, was ich denken oder tun soll, schon gar nicht von Carson Chambliss.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und ich konnte förmlich sehen, wie sie sich innerlich zurückzog. Die Wut, die kurz aufgewallt war, wich einer Traurigkeit, die sich über ihr Gesicht breitete. Ihre Augen wurden feucht.
    »Ich liebe diese Kinder«, sagte sie. »Alle, wie sie da sind. Ich liebe jedes einzelne von ihnen, als wäre es mein eigenes. Und eins von ihnen zu verlieren, vor allem Christopher …« Ihre Stimme erstarb.
    Ich saß da und sah, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, aber ich war irgendwo anders, lauschte meiner eigenen Stimme, die ihre übertönte.
Sie weiß nicht, was sie sagt. Sie ist eine alte Frau, und sie hat nie eigene Kinder gehabt, und sie weiß nicht, wie es ist, eins zu verlieren. Und sie ist kein Mann, und sie weiß nicht, was es heißt, eine Mutter trauern zu sehen.
Ich blickte starr geradeaus und hatte alles wieder vor Augen. Der fleckige Schnee auf dem Rhododendron. Die Stille, die ich und Owens ertrugen, als wir vor Jeffs Leichnam standen. Jeffs Schuhe, von denen Rauch

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