Fuerstin der Bettler
Wein. Wundervoll, nicht?«
Mit einer raschen Geste steckte der Unbekannte das Blatt in sein Wams, ging um das Pult herum und legte dann von der anderen Seite die verschränkten Arme auf das Stehpult.
Wieder sah Bruder Adilbert nur die untere Hälfte des Gesichts, während sich die obere Hälfte im Kapuzenschatten verbarg. Der Mönch hatte das Gefühl, als wäre alles Blut aus seinem Leib gewichen und hätte nur eine Hülle zurückgelassen. Wenn er sich bewegt hätte, wäre er vermutlich in sich zusammengesunken wie ein leerer Sack.
»Ich werde Abt Heinrich nicht verraten, Bruder Adilbert, dass Ihr erotische Verse aus der Bibel kopiert und an Eure Mitbrüder verteilt. Vermutlich nicht uneigennützig, sondern für kleine Vergünstigungen. Schließlich ist die menschliche Natur mit Fehlern behaftet, und solche kleinen Fehler muss man ihr nachsehen.«
Langsam ahnte Adilbert, worauf der Mann hinauswollte. Seine innere Stimme sagte ihm: Wie immer der seltsame Fremde ins Scriptorium gekommen war, er war nicht gekommen, um seine kleinen Schwächen aufzudecken, sondern um sie auszunutzen.
Die Augen des Fremden schienen ihn scharf zu mustern, und als der Unbekannte anhob zu sprechen, glaubte der Mönch, der andere könne Gedanken lesen.
»Ich will etwas Ähnliches von Euch, was Bruder Medardus von Euch wollte.«
Adilberts Augen weiteten sich. »Erotica? Ihr wollt von einem Mönch Erotica?«
Jetzt lachte der Fremde laut auf, doch es war ein unfrohes Lachen.
»Wenn ich Erotica wollte, würde ich mich unbedingt an einen Mönch wenden.« Die Stimme troff vor Spott. »Wer kennt die Schliche der menschlichen Natur besser als jemand, der sie beständig unterdrücken muss? Wer all seine Kraft dafür aufwenden muss, nicht nur die Natur, sondern auch seinen Geist zu überwinden, ist das geeignete Gefäß für Fantasien aller Art, Bruder Adilbert. Auch der schlimmsten.«
Der Mönch wunderte sich wieder, woher der Fremde seinen Namen kannte. Doch er ließ sich nichts anmerken. Stattdessen bohrte er nach.
»Wenn Ihr keine Texte wollt, dann ... dann wollt Ihr Bilder?«
Der Fremde schürzte sie Lippen und betrachtete den Kuttenträger von oben bis unten. Bruder Adilbert versuchte, seine mit Farbe und Tintenklecksen verunreinigten Ärmel zu verstecken.
»Ich weiß sehr wohl, dass Ihr ein leidlich begabter Maler seid. Aber ich bevorzuge das Original. Ihr nicht auch? Es ist – sozusagen – farbecht und bleicht erst im Alter aus.«
Der Mönch wusste nicht, was er sagen sollte. Was um alles in der Welt wollte der Kerl von ihm, noch dazu im Scriptorium, zu dem er keinen Zutritt hätte haben dürfen?
»Ich will euch nicht länger auf die Folter spannen, Bruder Adilbert. Ich brauche eine Urkunde. Sagen wir, ich brauche sie, weil das Original leider nicht mehr auffindbar ist – und solche Verluste, die natürlich vorkommen können und die ärgerlich sind, können Ärger bereiten.«
Die Nachmittagssonne versteckte sich noch hinter dem Glockenturm. Im Scriptorium herrschte eine diffuse Helligkeit. Nur für etwa eine kurze halbe Stunde würde die Sonne hinter dem Turm hervorbrechen und durch eine Lücke zwischen Turm und Dach scheinen, bevor sie gänzlich unter das Satteldach der Kirche fiele, einen Lichtstrahl durch das hohe Fensterkreuz schicken und ihn auf Bruder Adilberts Pult richten. Ein heller Streifen Licht würde dann langsam über die Schreibfläche kriechen. Der Mönch mochte dieses kurze Lichtspiel, das um diese Jahreszeit, im Mai, beinahe jeden Tag in derselben Art und Weise vor sich ging. Es war die Zeit für seine heimlichen Arbeiten, weil niemand sonst hier noch arbeitete. Wenn der dunkle Balken des Fensterkreuzschattens schließlich über sein Pult gewandert war, begann der Abend.
Doch wenn Bruder Adilbert gehofft hatte, dass die hereinscheinende Nachmittagssonne mit ihrem Licht die Kapuze des Fremden ausleuchten würde, so wurde er enttäuscht. Der Schattenbalken des Fensterkreuzes verdeckte jetzt das Gesicht des Fremden, sodass seine Gesichtszüge weiterhin verborgen blieben. Wie der Balken mitten durch das Gesicht des Unbekannten lief, hatte etwas Unheimliches. Dennoch schimmerte es merkwürdig hell unter der Kapuze.
»Ihr wollt eine Urkunde fälschen lassen?«, fragte Bruder Adilbert leise. Er fürchtete, dass ein Mitbruder heimlich dem Gespräch lauschte, das eine so merkwürdige Wendung genommen hatte.
»Nein. Ihr versteht mich falsch. Ich will keine Urkunde fälschen, ich will nur eine verloren gegangene
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