Fuerstin der Bettler
durfte sie nicht vergessen. Sie wollte eben zu einer Erwiderung ansetzen, als die Schwarze Liss nach vorn wies, auf die kleine Jakobskirche, eine der vielen Pilgerkirchen auf dem Weg zum Jakobsgrab, ein ärmliches Gemäuer für ein ärmliches Volk. »Röttel, du sitzt dort, vor dem Haupteingang.«
Röttel. Allein der Name war wie ein Peitschenhieb ins Gesicht und ließ jede Erwiderung in tausend feine Tröpfchen zerstieben.Sie war nicht mehr die Apothekerin, nicht mehr die Hannah Meisterin, die sie noch vor drei Wochen gewesen war. Sie war jetzt die Röttel.
»Ich werde nicht betteln!«, sagte Hannah. »Ich bin nicht die Röttel.«
Die Schwarze Liss blieb stehen und wartete, bis Hannah neben ihr stand. Dann grinste sie zu Hannah hoch. Leise sagte sie: »Jetzt will ich dir mal was sagen, du verzogenes Weibsstück. Wenn du etwas zu fressen haben willst, musst du die Hände aufmachen. Und manchmal vielleicht die Beine. Wenn nicht, dann verreckst du, hier in einer Ecke oder an der Stadtmauer oder sonst wo, und niemand wird es auch nur bemerken.« Sie entblößte eine Reihe brauner Zähne. »Almosen gibt es aber nicht umsonst. Die Röttel hatte einen guten Platz vor Sankt Jakob. Aber sie war angeblich vier Wochen in den Hexenlöchern. In der Zeit haben sich andere den Platz unter den Nagel gerissen. Mach dich auf was gefasst. Du wirst zulangen müssen, damit du an Almosen kommst. Umsonst, Schwester, ist der Tod, und der kostet das Leben.« Sie lachte vor sich hin. »Normalerweise sitzt du mir gegenüber. Wir haben gut zusammengearbeitet, die Röttel und ich, und die Almosen geteilt. Also kämpf um deinen Platz.«
Damit ließ die Schwarze Liss Hannah stehen und humpelte hinüber zum Haupteingang der Kirche. Dort verschwand sie in der Menge der Pilger und Bettler und Stadtarmen, die sich vor dem Gotteshaus sammelten. Langsam ging Hannah näher und fand sich plötzlich in einem Sog von Menschenleibern wieder, der sie zur Kirche führte. Bei dem bloßen Anblick wurde Hannah von Übelkeit erfasst. Offene Wunden, Grind, verkrüppelte und fehlende Gliedmaßen. Zerlumpte Gestalten, verschorfte Haut, schwarze Stümpfe. Eine Ansammlung von Höllenfiguren, in die Hannah da stolperte.
Sie wollte sich nicht in die Schar der Bresthaften einreihen. Doch die nachfolgenden Pilger, die sich durch diesen Bodensatz einen Weg bahnen mussten, schoben und stießen sie vorwärts. Hände reckten sich ihr entgegen und zerrten an ihren Lumpen, als hätte sie selbst Almosen zu verteilen. Die Bettelnden heulten, stöhnten, fluchten, schrien, sangen und spuckten aus, wenn man nichts gab. Es war wie das Heulen aller Teufel am Eingang zur Unterwelt.
Plötzlich griff eine Hand nach ihr, zerrte sie aus dem Strom und stieß sie in die Gruppe der Bettler auf der anderen Seite des Kirchenportals. Flüchtig nahm Hannah das Gesicht der Schwarzen Liss wahr, die ihr den Stoß versetzt hatte und sie herausfordernd anschaute. Doch da stolperte sie bereits über Beine und Körper. Ein Aufschrei, ein Kreischen.
»Was willst du hier?«, keifte ein Weib direkt neben ihr und stieß ihr die Faust gegen die Hüfte.
»Mach Platz!«, fauchte eine weitere. »Hau ab, du alte Vettel!« Wieder hagelte es Schläge aus kleinen knochigen Fäusten. Hannah hob die Arme, um ihren Kopf zu schützen. »Trau dich!«, schrie vor ihr eine Furie, packte sie am Arm und zog sie weiter. Hannah strauchelte über Beine und verfing sich in Armen, bis sie aus der Gruppe hinausstolperte. Bevor Hannah sichs versah, landete sie in der Nebengasse, begleitet von Fußtritten, geprügelt und gestoßen. Sie taumelte, fiel in den Kot der Straße, besudelte ihre Hände, ihre Kleidung und wäre beinahe von einem Fuhrwerk überfahren worden, dessen Pferde vor ihr scheuten. Geistesgegenwärtig rollte sie sich zur Seite, und die mit Eisen beschlagenen Hufe und die hölzernen Speichenräder verfehlten sie um Haaresbreite. Der Kutscher fluchte und beschimpfte sie mit den unflätigsten Wörtern. Dann schlug er mit der Peitsche nach ihr und trieb sie zurück zur Kirchenmauer.
Wie besinnungslos rutschte Hannah über den Schlamm derGasse, nur getrieben vom Willen zu überleben, und lehnte sich schließlich keuchend und am ganzen Körper zitternd gegen die Mauer des Gotteshauses. Sie zog die Beine an den Körper, ließ den Kopf auf die Knie sinken und weinte hemmungslos. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie Herbstlaub im Wind. Sie konnte keinen davon fassen. Ihr Blick war trüb vom
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