Fuerstin der Bettler
Mühle geraten. Noch viel mehr schmerzte es sie aber, dass sie wieder einmal verloren hatte. Sie hatte den Platz der Röttel nicht verteidigen können. Sie war nicht hart genug. Sie war zu schwach für dieses Leben in der Gosse. Außerdem hatte sie nagenden Hunger.
Als sie die Augen aufschlagen wollte, bemerkte sie, dass sie nur ein Auge öffnen konnte. Das andere war zugeschwollen.
Sie lag da, wo der Rote sie hatte liegen lassen, gegenüber der Kirchenpforte von Heilig Kreuz.
»Röttel?«
»Ja?«, versuchte Hannah zu antworten, aber sie brachte nur ein Krächzen zustande. Hannah wollte sich erheben, doch der Schmerz raste noch heftiger durch ihren Körper und zwang sie nieder. »Was wollt Ihr?«, krächzte sie mühsam.
Jemand kniete sich neben ihr nieder.
»Liss?«
»Ja. Ich bin’s. Wer hat dich so zugerichtet?«
»Der ... Rote«, stammelte Hannah. Ihre Unterlippe brannte, als sei sie in der Mitte gespalten worden.
»Du hast dich mit dem Roten angelegt?« Die Schwarze Liss pfiff durch die Zähne. Lauernd schaute sie um sich. »Dann müssen wir weg, Kindchen. Mit dem ist nicht zu spaßen.«
»Ich ... kann nicht ... aufstehen«, stöhnte Hannah, die das Gefühl hatte, ihr ganzer Körper sei zermalmt worden.
»Wir müssen aber schleunigst hier weg, denn sollte der Rote hier wieder auftauchen ...«
Hannah schloss die Augen und versuchte, ihren Beinen zu befehlen, sich hinzustellen. Vielleicht würden sie den Rest des Körpers mitnehmen, dachte sie. Tatsächlich rappelte sie sich mit Liss’ Hilfe auf und stand schließlich schwankend vor der Schwarzen Liss.
»Und wohin jetzt?«, murmelte sie.
»Jedenfalls nicht in den Fledermausturm. Dort wartet er bestimmt. Wir bleiben diesmal im Freien.« Die Liss seufzte und fasste Hannah unter den Armen. »Du scheinst das Unglück regelrecht anzuziehen, Röttel«, sagte sie und humpelte, Hannah hinter sich her ziehend, in Richtung der Bastion Lueginsland.
Stockend erzählte ihr die Apothekerin von ihrer Begegnung mit dem Roten, von ihrer Wut auf den Kerl und von ihrem Versuch, ihren Platz zu verteidigen.
»Das hätte ich dir gar nicht zugetraut«, sagte die Schwarze Liss. »Du bist doch kein so ein verwöhntes Ding, wie ich gedacht habe.«
Sie verschnauften einen Augenblick, weil der Weg anzusteigen begann und sie außer Atem kamen. »Du hast nur noch nicht die richtige Art gefunden.«
Hannah hörte gar nicht recht hin, als die Schwarze Liss von Gemeinschaft und Einstehen füreinander schwafelte, als sie die Gruppe beschwor und das richtige Wort erwähnte, das die Menschen zum Eingreifen veranlasst hätte. Sie konnte ihr rechtes Auge immer noch nicht öffnen, und ihre Lippe war aufgerissen und blutete wieder. Doch das Gehen fiel ihr mit jedem Schritt etwas leichter, und der Schmerz in Armen und Beinen ließ langsam nach.
»Wo gehen wir hin?«, fragte sie. Langsam wurde es dunkel, und die Gassen zur Bastion hinauf waren unbeleuchtet. Überall raschelte und knisterte es, als wären die Seitenwege und Hänge belebt.
»Auf halbem Weg gibt es einen Kellerzugang. Der reicht gut zehn Fuß in den Hang hinein, bevor die Tür kommt. Dort können wir bleiben – wenn der Platz unbesetzt ist.«
Die Stimme der Schwarzen Liss klang zwar zuversichtlich, doch Hannah fühlte sich unbehaglich bei dem Gedanken, in dieser Finsternis draußen zu nächtigen. Vollkommene Dunkelheit war ihr keineswegs fremd. Selbst ihr Mann war nicht vermögend genug gewesen, überall Talglichter aufzustellen. Doch um ihr Anwesen waren Mauern gewesen, die schützten.
Plötzlich bog die Liss nach links ab, und Hannah wäre beinahe gestolpert.
»Sind wir da?«, fragte Hannah und löste ihren Arm aus dem Griff der Bettlerin.
»Still!«, zischte die, und sofort verstummten alle beide.
Erst jetzt vernahm Hannah das Geräusch von Schritten, die ihnen von oben entgegenkamen. Es war ein ungleichmäßiger, stolpernder Takt, als würde jemand immer wieder aus den Tritt kommen und sich dann wieder fangen.
Es waren zwei Gestalten, die ihnen entgegenkamen. Hannah erstarrte, denn sie konnte von Weitem sehen, dass zumindest einer der Unbekannten eine Laterne trug.
»Wir müssen in die Büsche, sonst sehen sie uns«, flüsterte sie.
»Schnell«, zischte die Liss zurück. »Wir hocken uns hin und ziehen den Kopf ein.«
Sie drückten sich in die Büsche am Wegrand, die hier unter der Wehrmauer dicht und üppig standen, und hielten den Atem an, als die zwei Männer den Weg herab auf sie zukamen. Es waren
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