Fuerstin der Bettler
je ein Heldenlied über dich oder mich oder den Dürren Karl schreiben.«
Hannah starrte in das Rund des Turmes. Lange ließ sie ihre Augen die dunklen Fugen entlangwandern, bis sie antwortete.
»Unsere Kraft reicht viel weiter, Liss. Wir nutzen sie nur nicht, und wir vertrauen ihr nicht.«
Die Gedanken der beiden Frauen wurden von einem Schrei durchbrochen, der dumpf vom ersten Stock herabdrang.
»Was um alles in der Welt ...?«, flüsterte Hannah.
Die Schwarze Liss blieb ruhig. »Viele der Frauen sind krank. Manche sind schwanger und bringen ihre Kinder hier zur Welt. Andere kommen her, um zu sterben.«
Angestrengt horchte Hannah nach oben. »Braucht sie Hilfe? Ich bin die Frau eines Apothekers. Ich kenne mich aus mit Krankheiten. Ich habe viele Kranke behandeln helfen.«
Die Liss legte den Kopf schief. »Lass lieber die Finger davon. Du hattest bislang eher den Tod an den Händen kleben. Ich weiß nicht, ob sie dir vertrauen.«
Hannah hörte nicht mehr hin. Obwohl sie nicht ganz sicher auf den Beinen war, tastete sie sich durch den Raum bis zur Treppe. Langsam stieg sie hinauf und ließ sich durch das jetzt zum Wimmern abgeschwächte Schreien leiten.
Als sie den Kopf durch die Treppenöffnung steckte, wandten die Köpfe der Frauen sich ihr zu. Es waren gut zwei Dutzend Frauen, die auf hölzernen Gestellen lagen. In der Mitte des Raums stand ein länglicher Tisch. Ganz hinten in der Ecke hatten sich drei Frauen um ein Bett herum versammelt und versuchten, die Jammernde darin zu beruhigen.
Hannah stieg in den Raum hinein und ging zu der Ecke. Die Frauen begannen hinter ihr zu tuscheln und zu reden.
»Was fehlt ihr?«, fragte Hannah die drei Frauen am Bett.
»Was geht es dich an, Röttel?«, fragte eine der Frauen zurück.
»Ich bin die Frau eines Apothekers. Ich kenne mich auch mit Krankheiten aus.« Hannah flüsterte die Worte zu sich selbst, weil sie nicht wollte, dass der ganze Schlafsaal Mutmaßungen anzustellen begann. Und sie erinnerte sich an die Hutter Babett, die ihr dankbar gewesen war, weil sie zu helfen vermochte.
»Sie hat Schmerzen im Bein. Man muss es abnehmen. Aber wer soll das tun?«
Hannah schluckte. Wundbrand war nicht heilbar. Er fraß die Menschen auf und ließ sie qualvoll sterben. Wenn sie sich an Wundbrand wagte, würde sie verlieren.
»Lasst mich einen Blick darauf werfen. Ich brauche Licht. Ich brauche Luft. Und ich brauche saubere Tücher und abgekochtesWasser. Vielleicht können wir ihr Bein retten. Aber dazu muss ich es erst sehen.«
»Talglichter können wir dir hinstellen, Röttel. Auf Tageslicht musst du allerdings noch warten. Das gibt es erst in drei Stunden.«
»Aber heißes Wasser wird es schon jetzt geben, oder?«
Die Frau neben ihr nickte, drängte sich durch die Menge und verschwand im Untergeschoss. Hannah betrachtete die Kranke, die mit fiebrigen Augen und eingefallenen Wangen vor ihr lag. Sie war jung, und wenn sie nicht so vor Schmutz gestarrt hätte und ihre verfilzten Haare gebändigt gewesen wären, wäre sie sogar hübsch gewesen.
»Wie heißt du?«, fragte Hannah.
Das Wimmern brach ab. Die wässrigen Augen der Bettlerin richteten sich auf Hannah. Währenddessen trat Hannah an das Bett, schlug die Decke zurück und musste unwillkürlich die Hand auf die Nase legen. Von der offenen Wunde am Bein ging ein unbeschreiblicher Gestank aus.
»Nelda«, hauchte die Kranke.
Der Unterschenkel des linken Beins war rot entzündet. Auf Höhe des Schienbeins klaffte eine offene Wunde, die stark nässte.
»Wie ist das passiert?«
»Der Rote. Er hat ... mich geschlagen. Das Bein ist ... aufgeplatzt ... und hat sich nicht mehr geschlossen.«
Überrascht sah Hannah auf. »Der Rote? Der Rote ist tot! Da kannst du sicher sein.«
Nelda schüttelte den Kopf. Auch ringsum sah Hannah nur Kopfschütteln und zusammengepresste Lippen.
»Der Rote geht jetzt auf Krücken. Die Achillessehne an einem Bein ist durchtrennt, und beim anderen Bein sind die Sehnen im Oberschenkel durchtrennt worden. Er humpelt, aber er lebt.«
Ihre Furcht wuchs von einem Augenblick zum andern ins Unermessliche. Unwillkürlich begann Hannahs linke Hand wieder zu zittern. Sie konnte nichts dagegen tun. Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich an einer Stuhllehne festhalten, um nicht umzukippen.
Der Rote lebte also. Er hatte ihren Messerstich und die Schnitte durch die Sehnen überstanden. Sie hatte lange Wochen hindurch vor lauter Gewissensbissen nicht schlafen können – und jetzt erfuhr
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