Fuerstin der Bettler
schien nur darauf zu warten, ihre Bewohner an den Sensenmann zu übergeben.
»Dein Wissen ist leider falsch«, sagte sie, und ihre Stimme bebte. Hannah berührte erneut die Waffe an ihrem Handgelenk und fühlte, wie sie ruhiger wurde. »Ich habe den Roten erstochen.«
»Du? Erstochen?« Jetzt lachte der Dürre Karl und schlug sich auf den Schenkel. Dann verstummte er unvermittelt. »Dann kannst du vielleicht auch ein Küchenmesser einigermaßen benutzen. Wenn das so ist, habe ich Arbeit für dich. Am Vormittag darfst du dich um meine Kunden kümmern, und am Abend kochst du. Aber zuvor muss ich sicher sein, dass du auch eine gewisse Eignung für die Vormittage besitzt.« Der Dürre Karl verzog den Mund und ließ seine Zähne sehen, von denen mancheso schwarz waren, dass es in der Düsternis des Turms wirkte, als öffne sich ein Schlund in die Hölle.
Hannah wich ganz zurück an die Wand. Die Ziegel drückten sich ihr hart in den Rücken.
Sie wollte nicht, dass er sie berührte, sie wollte in Ruhe gelassen werden. Aber vielleicht war das unmöglich in dieser Welt. Vielleicht bestand diese Welt darauf, dass man sich in ihr zu verteidigen hatte, dass man sich zur Wehr setzen musste – und nur wer sich wehrte, durfte hier, im Seim der Gosse leben. Sie wollte leben. Sie wollte herausfinden, wer ihren Mann und die Tochter ermordet hatte. Sie wollte ...
»Mach die Beine breit!«, hallte die Stimme des Dürren Karl im Gewölbe wider.
Hannah ließ sich mit dem Rücken an der Mauer hinuntergleiten und sah ihn vor sich aufragen, die Hose nur noch mit der zur Faust geballten Hand haltend.
Langsam, als wäre ihr diese Bewegung keineswegs zuwider, spreizte sie die Beine.
»Na also, Kindchen«, lobte sie der Dürre Karl. Er stieg aus der Hose, kniete sich hin und beugte sich zu ihr vor.
»Und jetzt, mein Kind, wirst du lernen, wie man einen Mann wirklich glücklich macht ...«, krächzte der Dürre Karl.
Hannah war selbst überrascht, wie kalt sie sich plötzlich fühlte, jetzt, da die Bedrohung so nah war, und wie wenig sie zitterte und Angst hatte vor dem, was geschehen würde.
Der Dürre Karl stützte sich mit beiden Händen am Boden ab und brachte sein Gesicht nahe an das ihre. Hannah spürte, wie die Erinnerung an die Begegnung mit dem Roten sie zu lähmen drohte, wie das Erlebnis sie unfähig machen würde, sich zu wehren. Tränen der Verzweiflung liefen ihr über das Gesicht und machten sie blind. Und blind riss sie das Messer aus dem Futteral, packte es mit beiden Händen und stieß es nach oben.Sie hörte etwas knacken, hörte das Röcheln des Dürren Karl und spürte das Zittern, das durch seinen Körper lief.
Dann fuhr der Dürre Karl hoch und riss ihr dabei das Messer aus der Hand. Hannah schrie. Das Gesicht des Dürren verschwand vor ihr im Dämmerlicht. Sie sah nur seine Hände, die sich um den Griff des Messers legten. Dann erst fiel ein schwacher Schein auf sein Gesicht. Sie hatte ihn am Kehlkopf getroffen.
Ungläubig starrte der Dürre Karl auf den Messergriff und zog das Messer aus der Wunde. Jetzt pulste das Blut aus dem klaffenden Schnitt, und ein Gurgeln zeigte Hannah an, dass der Turmbetreiber langsam an seinem eigenen Blut erstickte.
Hannah kroch, so schnell sie konnte, unter dem Dürren Karl weg. Schließlich kippte der nach vorn, zuckte noch ein paarmal und blieb dann regungslos liegen.
Hannah sah stumm auf den leblosen Körper, dann drehte sie sich weg und begann zu weinen, hemmungslos zu weinen.
Was geschah nur hier unten in der Gosse mit ihr? Machte das Leben unter diesen ... diesen Tieren sie hier selbst zum Tier? Sie zitterte plötzlich wieder am ganzen Leib.
Vor ihren Augen hatte sich ein blutroter Schleier gebildet, den sie nicht mehr los wurde und der ihr den Blick auf die Wirklichkeit verwehrte.
Die flüsternden Stimmen, das Öffnen und Schließen des Tors, das Streicheln über ihr Haar, das Lachen und Fluchen drangen nur wie ein Rauschen in ihr Bewusstsein. Wie lange sie so dalag, konnte sie nicht sagen.
Irgendwann tauchte sie aus ihrem Kokon auf, entfernte das Gespinst um ihren Geist und lauschte in die Dunkelheit hinein. Sie riss die Augen auf, so weit sie konnte, doch die Schwärze war undurchdringlich wie eine Wand, sickerte hinter ihre Augäpfel und verursachte das schmerzende Gefühl, erblindet zu sein.
Hannah richtete sich auf. Sie spürte eine Decke, auf die man sie gelegt hatte, spürte ein Laken, das ihre Beine bedeckte. Sie spürte, dass man sie ausgezogen und
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