Fuerstin der Bettler
schwach.
»Das wirst du nicht überleben«, zischte Hannah, »wenn du nicht den Mund aufmachst.«
Der Rote schloss sein gesundes Auge, als wollte er schlafen, und drehte den Kopf zur Seite.
Hannahs Herz schlug wie rasend, als sie seinen Kopf zurückriss, sodass er sie ansehen musste. Es kostete sie ungeheure Überwindung das zu tun, was sie vorhatte. Sie dachte an Jakob und an ihre Schändung durch den Roten und drückte ihm mit einer raschen Bewegung den Daumen ihrer rechten Hand in die noch gesunde Augenhöhle. Zu ihrem eigenen Erstaunen bemerkte sie, dass sie dabei nicht zitterte, dass sie keine Skrupel verspürte, dass sie vielmehr so ruhig und gelassen war wie ein Folterknecht. Das war nicht sie, das war eine andere Hannah, die Hannah der Gosse. Die Röttel.
Der Rote schrie gellend auf.
»Wenn ich mit dem nächsten Satz nicht höre, was ich wissen will, bist du blind.« Sie drückte erneut zu. »Also, was verschweigst du mir, Kerl?«
Der Rote heulte schrill auf, als Hannah ihren Daumen weiter in die gesunde Höhle bohrte. Dann ließ sie nach, damit er sich besinnen und antworten konnte.
»Ich höre!«, zischte sie.
Zuerst atmete er nur tief durch, dann jedoch sagt er: »Ich habe ... deine Tochter ...«
Hannah war wie vom Donner gerührt. »Gera? Gera lebt? Du hast Gera?«
Sie löste ihren Griff. Das rechte Auge des Roten war jetzt ebenfalls blutunterlaufen. Er richtete den Blick auf sie, und diesmal wusste Hannah, dass sie nichts mehr von ihm erfahren würde.
»Fahr zur Hölle, Hexe«, murmelte der Rote.
Hannah bemerkte erst jetzt, dass sich das ganze Haus um sie versammelt hatte, weitere dreißig Frauen, die oftmals nur für die Nacht im Turm unterkamen. Nelda war ebenfalls darunter, kalkweiß vor Entsetzen, den Roten vor sich zu haben.
Hannahs Gesicht war nass von Tränen.
Die Schwarze Liss legte ihr eine Hand auf den Arm. »Wirfesseln ihn, und dann werden wir ihn wieder befragen«, sagte sie. Sie führte Hannah zu einem Stuhl und bedeutete ihr, sich niederzusetzen. »Er wird reden, Röttel. Du wirst sehen. Wir werden deine Tochter finden, wenn er sie wirklich hat.«
5
D er Rote war tot. Er war dem Fieber schneller erlegen, als Hannah es erwartet hatte. Sie starrte auf den Leichnam und nahm ihn doch nicht wahr. Ihre Augen waren ein einziges Tränenmeer. Aus ihrem anfänglichen Triumph war ein klägliches Versagen geworden. Er hatte kein Wort mehr von sich gegeben, hatte sie keines Blickes mehr gewürdigt. Das Wissen um die Bedeutung seiner Worte hatte er mit in den Tod genommen, und Hannah gab sich die Schuld. Es war ihr Vorgehen gewesen, ihre Skrupellosigkeit. Sie erkannte sich selbst nicht wieder.
Hannah ließ sich neben den Tisch, auf dem der Rote noch lag, auf den Boden sinken. Sie fühlte sich wie betäubt.
Sie hatten ihn losgebunden, und ein Arm des Toten war über die Tischkante herabgerutscht, und die Hand, die in einem halb zerrissenen leinenen Handschuh steckte, baumelte vor ihren Augen. Wütend schlug sie diese weg – und der Handschuh verrutschte und entblößte eine Narbe am Finger, von der sie glaubte, dass sie sie schon einmal gesehen hatte. Hannah erstarrte. Hastig ging sie auf die Knie und zerrte den Handschuh ganz von der Hand des Toten.
»Was hast du denn?«, fragte die Liss und runzelte die Stirn.
Doch Hannah achtete nicht auf sie. Sie warf den Stofffetzen achtlos beiseite und starrte auf den Mittelfinger der linken Hand. »Liss!«, flüsterte sie. »Liss! Ich bin ihm schon einmal begegnet.«
»Du bist dem Roten schon mehrmals begegnet, Kind.« Die Schwarze Liss seufzte.
Hannah deutete auf die Narbe. Der Finger schien in der Mitte gespalten gewesen zu sein. Nur mit groben Stichen hatte man ihn zusammengenäht.
»Ich erinnere mich an diese Narbe, Liss. Ich bin dem Roten schon begegnet, bevor er mich berührt hat.«
Die Schwarze Liss beugte sich über die Hand. »So etwas vergisst man wohl tatsächlich nicht«, brummte sie. »Denk nach!«
In ihrem Schmerz zermarterte Hannah sich das Hirn. Sie betrachtete die Hand mit dem Finger und das Gesicht, das entstellt war von der Entzündung.
Dann fiel es ihr wieder ein. Sie erinnerte sich an die unheimliche Gestalt, die sie vor ihrem brennenden Haus angerempelt hatte. Dort war sie dem Roten schon einmal begegnet. Wenn sie auch sein Gesicht nicht recht hatte erkennen können, den gespaltenen Finger hatte sie deutlich genug vor Augen, wie er die Öffnung eines Sacks zugehalten hatte.
Plötzlich versiegten ihre Tränen,
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