Fuerstin der Bettler
und nickte. Dabei ließ er den Krug nicht aus den Augen.
»Ein Mann und zwei Frauen waren es, nicht wahr?«, bohrte die Liss nach.
Der Totengräber sah sie an. Kein Muskelzucken in seinem Gesicht verriet, ob er verstanden hatte, was die Liss ihn da gefragt hatte. Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und stach eine weitere Scholle ab. Während er die Schaufel schwang, sagte Gisbert mit einem zischenden und blasenden Begleitton: »Ein Mann, zwei Mädchen.«
Die Schwarze Liss fragte weiter: »Zwei Mädchen? Nicht zwei Frauen?«
»Zu jung«, fauchte es aus der Scharte des Mannes. »Heute die dritte Tote. Das Loch – das ist für sie.«
Überrascht sah Liss zu Hannah hinüber. Das Loch, das er grub, war für die Tote, die man zuletzt gefunden hatte.
»Wo haben sie das Mädchen gefunden?«, fragte Hannah.
Der Totengräber ließ seinen Blick von der Schwarzen Liss zu ihr wandern und dann wieder zurück. Wortlos hob er mit seiner Schaufel Erde aus und schwang sie aus der Grube.
»Sie darf nicht mit mir reden«, sagte er nur.
»Ich weiß«, sagte die Schwarze Liss.
Hannah wusste natürlich um das Verbot, mit den Leuten zu sprechen, die einen unehrenhaften Beruf ausübten, oder diese Leute gar zu bewirten. Abdecker, Henker, Bader und eben Totengräber. Wer mit ihnen ohne Notwendigkeit zu tun hatte, der lief Gefahr, selbst ausgestoßen zu werden. Lieber ließ man in der Stadt einen toten Henker auf der Straße verfaulen, als ihn zu beerdigen. Wer ihn berührte, der wurde geächtet.
»Ich bin ...«, fing Hannah an, doch die Schwarze Liss schüttelte energisch den Kopf.
Hannah holte noch einmal tief Luft. Die Liss hatte recht, sie durfte ihre eigentliche Herkunft nicht so leichtfertig preisgeben.
Also begann sie nochmals: »Ich bin eben neugierig. Wo hat man die letzte Tote gefunden?«
»Im Graben«, zischelte Gisbert.
Hannah und die Schwarze Liss sahen sich an.
»Wie viele waren es seit dem Brand?«, fragte die Liss.
Der Totengräber hob eine Hand und zeigte fünf Finger. Dann nahm er einen weg. »Ein Junge, mit den beiden Toten im Haus.«
»Fünf«, wiederholte Hannah. »Mein Gott. Wer tut so etwas?«
»Der Obstbrand ist für dich, Gisbert. Danke.«
Die Schwarze Liss wich etwas zurück vom Rand des Grabes. Der Totengräber griff rasch nach dem Tonkrug und steckte ihn in eine Tasche seines weiten Mantels.
Dann drehte er sich zu ihnen um und machte eine Bewegung, die Hannah fast körperliche Schmerzen bereitete. Er fuhr sich mit der Hand über die Kehle.
»Allen war der Hals durchgeschnitten worden? Auch den beiden Mädchen im Haus des Apothekers?«, deutete Liss die Geste.
Der Totengräber nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Nachdenklich und etwas niedergeschlagen verließen sie den Friedhof. Zwei Mädchen, das konnte durchaus bedeuten, dass eines davon Gera gewesen war – wenn der Rote sie zum Narrengehalten hatte und ihr nur noch mehr Schmerz hatte zufügen wollen.
Hannah grübelte darüber nach, wie das geschehen sein konnte. Schließlich war Gera vor ihr ins Bett gegangen. Sie hätte durch das Schlafzimmer gehen müssen, und das hätte sie unwillkürlich geweckt. Oder hatte ihr Mann die Tochter mit hinuntergenommen? Womöglich war die ihm gefolgt, und sie selbst, Hannah, war einfach nicht aufgewacht. Sie konnte sich einfach nicht erklären, warum Gera nicht in ihrem Zimmer gewesen war.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Hannah, als sie wieder auf die Straße traten. Vom vielstimmigen Konzert der Webstühle begleitet, schlichen sie zurück zum Turm.
Schon von Weitem sahen sie, dass vor dem Tor mindestens ein Dutzend Bettlerinnen warteten. Es bedrückte Hannah, wie verwahrlost die Frauen waren. Es gab keine Macht, die sie schützte, und kein Gesetz, das sich ihrer annahm. Recht und Gerechtigkeit endeten an der Schwelle zur Armut. Sie würden sich dieses Recht selbst nehmen müssen. Mit dem Dürren Karl und dem Roten hatten sie begonnen.
»Sie kommen wegen dir«, sagte die Schwarze Liss.
»Wegen mir? Was für ein Unsinn.« Hannah schüttelte den Kopf. »Was soll ich ihnen schon geben können?«
»Zuwendung, Röttel. Du gibst ihnen Zuwendung, als Heilerin und für ihre Seele – und ein Gefühl der Sicherheit.«
»Du siehst ja, wie sicher es in dieser Stadt ist. Fünf Kinder mit durchschnittener Kehle. Was für ein Unrecht. Und womöglich ...« Ihre Stimme brach, als sie an Gera dachte. Womöglich hatte dasselbe Schicksal sie ereilt. Ihre Hoffnung, Gera könnte noch leben,
Weitere Kostenlose Bücher