Funkstille
herbeigesehnt, aber auch gefürchtet. Liebe ist das, was wir wollen, aber wir trauen ihr oft nicht. Da ist sie wieder, die Angst, sich festzulegen und dadurch die Fülle der Möglichkeiten zu verpassen, die unsere Zeit uns bietet.
Einsamkeit kommt auf, und um sie zu bekämpfen, sucht man Nähe. Jetzt, sofort. Der andere aber ist noch nicht soweit, wehrt sich, und weil man sich nicht gehört fühlt, bricht man ab. Funkstille. Haben wir uns unser eigenes Gefängnis gebaut? Der Kontaktabbruch ist eine Kapitulation, aus der jedoch auch Gutes, ja ein neues Miteinander erwachsen kann, wenn Abbrecher und Verlassener ihre Irrtümer erkennen und sich die Mühe machen, verstehen zu wollen, was der andere sagen möchte, auch ohne Worte. Schweigen ist Kommunikation, wie wir erfahren haben, doch es ist schwierig, die dahinterliegende Botschaft zu entschlüsseln.
Statt uns Konflikten zu stellen, fahren wir in emotional schwierigen Situationen häufig unsere Gefühle zurück. Konflikte bedeuten Stress, und davon hat jeder schon mehr als genug. Also lieber Kontaktabbruch. Wir wollen unseren Weg gehen und dabei keine Kompromisse machen, doch was haben wir davon, wenn wir allein von dannen ziehen, ohne nach links und rechts zu schauen? Stoßen wir nicht auf den Um- und Irrwegen genau auf das, was wirklich interessant ist? Mitunter scheint es geradezu so zu sein, dass eine Chance auf das Glück nur noch derjenige hat, der rechtzeitig vom Wege abkommt. Wir sind häufig zu »verkopft«, folgen zu wenig unserem Instinkt oder der Intuition. Viele Menschen sind hinter ihren selbsterrichteten Mauern kaum noch greifbar. Wir ahnen, dass es nicht richtig sein kann, sich das Bedürfnis nach echter Bindung zu verkneifen. Dennoch zögern wir – und entscheiden uns dann einmal mehr, dem Bedürfnis nach Selbstschutz den Vorrang zu geben. Vielleicht entspringt unsere Kontaktscheu auch dem Wunsch nach Kontrolle: Wir möchten das Leben handlich und beherrschbar machen, obwohl wir eigentlich wissen, dass es das niemals sein wird.
Hinzu kommt ein starkes Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Autonomie ist ein zentraler Wert unserer Zeit. Jeder ist seines Glückes Schmied. Wer autonom handelt, steigert dadurch seinen Selbstwert. Man will sich unterscheiden, nicht zur Masse gehören, also streicht man seine Eigenheiten heraus. Selbstverwirklichung schafft zwar Freiheit, aber nicht unbedingt auch Sinnhaftigkeit. Soziologisch gesprochen ließe sich sagen: Wir sind dabei, uns von allgemeingültigen Konventionen, wertgebundener Ethik und verpflichtender Moral zu befreien und damit unseren Beziehungen zueinander das Fundament zu entziehen. Noch schützen die traditionelle Ehe und das Leben als Familie sowie bei manchen von uns die Religionszugehörigkeit vor innerer Kälte und Verlassenheitsgefühlen, doch es wird immer deutlicher, dass sich eine große Anzahl von Menschen allein im luftleeren Raum fühlt.
Einige der Psychiater und Psychotherapeuten, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass wir in einer »Borderline-Ära« leben. Das bruchstückhafte Gefühl der Borderline-Persönlichkeit, die Schwierigkeit, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten, spiegele sich in der Zerstückelung ehemals stabiler Grundlagen der Gesellschaft wider. Angesichts wachsender sozialer Entfremdung scheint es, als würden die Menschen immer weniger daran glauben, mit bloßen Worten tragfähige Verbindungen schaffen zu können. Sprache wird nicht mehr zum Austausch genutzt, sondern ist zunehmend restringierte Geschwätzigkeit. Wir chatten und bloggen, simsen und twittern. Aber haben wir uns dabei noch etwas zu sagen? Leben ist Bezogen-Sein – diese Erkenntnis ist über die Zeit verloren gegangen. Leben wir in einer bindungsunfähigen Gesellschaft, in der emotional verkümmerte Menschen sich längst mit der alltäglichen Sprachlosigkeit abgefunden haben?
Ich treffe mich mit dem Soziologen Dr. Helmut Dubiel, den ich bei einer Dokumentation über die Tiefenhirnstimulation kennen und schätzen gelernt habe. Wir hatten uns am Rande langer Drehtage über Sprachlosigkeit, Bindungsangst, Flucht vor Verbindlichkeit und einhergehender Heimat-, ja Ortlosigkeit unterhalten. Schlampig seien die Beziehungen geworden, vage, stellten wir fest. Verflichtungen eingehen? Bloß nicht! Wir halten uns heutzutage alle Optionen offen, denken besser eine begonnene Geschichte nicht zu Ende, wer weiß, es könnte ja noch besser kommen … Und was ist mit Netzwerken?, frage ich den Soziologen. Wir
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