Funkstille
unvermindert gegenwärtig – innere und äußere Realität stehen im Widerspruch; ein Abgleich zwischen beiden ist nicht möglich. Deshalb bleiben die Verlassenen in der Mehrzahl innerlich auch genau dort stehen, wo der Abbruch passierte – mitunter noch nach fast 20 Jahren, wie sich an Ute zeigt. Professor Teising bestätigt: »Ja, das ist wie beim Trauma, es gibt keinen Prozess der Verarbeitung. Es ist ein stehengebliebener Trauerprozess.« Trauern ist die Folge eines Verlustes und die Anpassung an ein Leben ohne den vertrauten Menschen. Die Wut auf das Schicksal verliert mit der Zeit ihre Schärfe. In der Funkstille aber ist das Loslassen dadurch erschwert, dass es keinen eindeutigen Abschluss gibt.
Ähnlich wie ein Suizid stellt auch die Funkstille bei denen, die zurückbleiben, das gesamte Leben vor dem Verlust radikal in Frage. Was bisher als einigermaßen funktionierend empfunden wurde, wird nun im Rückblick zu einer Ansammlung von Fehlverhalten und versäumten Chancen. Wer vertrauensvoll war, wird das im Nachhinein naiv finden. Wer Kontrolle ausgeübt hat, wird dies nachträglich als Bevormundung erkennen müssen. Trennungsabsichten können ebenso zum Schuldfaktor werden wie die Weigerung, eine Beziehung zu beenden. Klärende Gespräche werden im Rückblick als Überforderung des verlorengegangenen Menschen interpretiert, nicht geführte Gespräche als verschenkte Möglichkeiten, das Geschehene vielleicht zu verhindern.
Beim Zurückbleibenden ist das Vertrauen, Situationen richtig einschätzen und entsprechend reagieren zu können, zutiefst erschüttert. Der Verlassene fühlt sich um die gemeinsame Zukunft mit dem verlorenen Menschen betrogen und der Vergangenheit, die nun als Lüge erscheint, beraubt. Der Abbrecher wiederum ist, ähnlich wie ein Suizident, Opfer und Täter zugleich. Und auch wenn die Grenze zwischen Abbrecher und Verlassenem nicht unumstößlich sein muss, ist der Kontaktabbruch ein so harter Akt der Abgrenzung, dass eine erneute Verbindung unmöglich scheint.
Siebtes Kapitel
Funkstille – ein Zeichen unserer Zeit?
Leben findet in Beziehungen statt. Beziehungen zu führen heißt, miteinander im Dialog zu stehen. Das kann anstrengend sein. Wir müssen hinhören, um zu verstehen, uns offenbaren, um verstanden zu werden, uns festlegen und gleichzeitig Kompromisse schließen können, um einen gemeinsam mit anderen begonnenen Weg fortzusetzen. Bei meinen Recherchen rund um die Funkstille hatte ich immer wieder den Eindruck, dass sie auch ein Ausdruck der Zeit sein könnte, in der wir leben – einer Zeit nachlassender Kommunikationsbereitschaft und wachsender Unverbindlichkeit.
Das klare und offene Gespräch wird nicht mehr gesucht, es wird gar gefürchtet, denn es fordert Aufrichtigkeit, Rückgrat und Charakter und natürlich auch Inhalt. Wir aber leben in einer Zeit, in der man sich alle Optionen offenhalten möchte und sich am Ende, wenn man Pech hat, doch keine erfüllt. An die Stelle von Lebensentwürfen sind Provisorien getreten, das Leben ist nur noch ein »Bildschirmschoner«, wie Roger Willemsen einmal gesagt hat. »Also wird dieses Leben kultiviert mit dem unausgesprochenen Imperativ: Halte dich lieber in einem Zustand vor dem Leben auf, dann wirst Du es eines Tages annehmen, wirst ›Ich‹ sagen können und sogar dich selbst meinen, wirst von ›deinem Leben‹ sprechen und dich darin erkennen können – in einer Sequenz von ausweichenden, provisorischen Entschlüssen, denen man den Ausdruck persönlicher Entscheidungen gibt«, so beschreibt Willemsen in seinem Buch Der Knacks dieses provisorische Leben.
Die Ursachen dieser sich offenbar ausbreitenden Ich-Schwäche sind vielfältig. Dass ein instabiles, leicht erschütterbares Selbst jedoch die Funkstille begünstigt, haben wir in den Geschichten der Abbrecher und der Verlassenen gesehen. Es fehlt wohl eher weniger an Wissen oder Geist, sondern an Mut, Geduld und Interesse, Dinge auszusprechen. Wir nehmen uns selbst nicht ernst. Unser Schweigen hat aber ernsthafte Folgen. Je mehr wir wissen und nicht aussprechen, desto einsamer werden wir. Denn wechselseitiges Vertrauen kann nur durch Miteinander-Reden entstehen – auch und gerade dann, wenn Konflikte durchzustehen sind.
Hinzu kommt: Man scheint sich nicht mehr zu brauchen, steht einander eher im Wege. Wir sollen schnell, flexibel, autonom sein – alles Eigenschaften, die beziehungsfeindlich sind. Verlässliche Beziehungen wecken ambivalente Gefühle. Sie werden
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