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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Zigarette an, die erste nach zwei Stunden Gespräch, und es wird klar, dass sie nun etwas erzählen will, das sie bis heute nicht loslässt. Es war der Auslöser für die Funkstille, nicht aber der Grund. Sie steht bleich und trotzig am Fenster, nach zwei intensiven Zügen beginnt sie leise zu erzählen: »Ich hatte eine gemeinsame Italienreise geplant, zugegebenermaßen in explosiver Zusammensetzung, mit meiner Tochter, meinem Lebensgefährten und Rico.« Ich frage sie nicht, ob sie vorher die Zustimmung der anderen Familienmitglieder eingeholt hatte.
    Die Atmosphäre während dieser Reise sei einige Tage höchst angespannt gewesen, erzählt Marina M. weiter, weil sich Rico und seine Schwester, die zu dieser Zeit hochschwanger war, ständig stritten und weil Rico ihren Lebensgefährten nach wie vor nicht akzeptierte. »Ich war ständig mit Schlichten beschäftigt, meine Nerven lagen blank. Irgendwann eskalierte die Situation. Rico rauchte in der Ferienwohnung eine Zigarette, und meine Tochter bat ihn zu Recht, aber nicht gerade freundlich, doch draußen zu rauchen. Plötzlich hatte Rico ein Messer in der Hand. Ich warf mich sofort dazwischen, weil ich Angst hatte, dass er meiner schwangeren Tochter etwas antun könnte, doch er richtete seine Attacke auf meinen Lebensgefährten. Rico, wahrscheinlich unter Drogen, flippte völlig aus, so dass wir die Polizei rufen mussten. Am nächsten Tag schickten wir ihn nach Hause. Er meldete sich nicht mehr. Vier Jahre lang.«
    Marina M. versuchte alles, um ihren Sohn zurückzuholen. »Ich litt sehr unter Ricos Rückzug, und dann kam das Weihnachtsfest, an dem ich mich aus dem Fenster stürzen wollte. Da wusste ich, dass ich therapeutische Hilfe brauchte.« Marina M. begab sich in eine Klinik. Dort erfuhr sie, dass Ricos Kontaktabbruch bei ihr alte Traumata zum Ausbruch gebracht hatte, die entstanden waren durch die emotionale Härte ihrer Mutter, den Suizid eines Onkels und die Trennung von ihrem Mann, der sich mit seiner Alkoholabhängigkeit selbst zerstörte. »Nach dieser jahrelangen Funkstille mit Rico war ich am Ende, hatte einfach keine Kraft mehr. Alles in meinem Leben wurde auf meinem Rücken ausgetragen. Ich brauchte Ruhe, auch vor Rico. Ich wollte ihn eine Zeit lang sogar nicht mehr sehen. In der Klinik gab es eine sehr junge Therapeutin, die mir beibrachte, mich auf meine Potenziale zu besinnen. Ich erkannte: Ich bin mehr als die Mutter, mit der man nicht mehr spricht und zu der der Kontakt abgebrochen wurde. Und ich habe noch eine Zukunft vor mir, selbst wenn mein Sohn nie mehr mit mir sprechen sollte. Da verstand ich, dass mein Leben auch ohne ihn weitergeht.«
    Erneut frage ich mich, ob Rico intuitiv gespürt hatte, dass seiner Mutter wie ihm die Distanz letztlich guttun würde. Der Kontaktabbruch – der inzwischen vorüber ist – hatte für beide eine heilende Funktion. Möglicherweise hat Rico aber auch nur ein Verhalten imitiert, das ihm aus seiner Familie vertraut war: Flucht in die Sucht und Schweigen, um zu strafen.
    Loslassen? Niemals! – Die neurotische Persönlichkeit
    In der Klinik habe sie eine interessante Beobachtung gemacht, schreibt Marina M. mir einige Wochen nach unserem Gespräch. Sie habe an einigen Gruppensitzungen teilgenommen, in denen es um Familien ging, in denen ein Mitglied psychisch krank war. Und in all diesen Familien habe es solche extremen Kontaktabbrüche gegeben: »Vielleicht ist man auch etwas psychisch gestört, wenn man nicht sagen kann, was einen stört!«, resümiert sie.
    Auch Lisa-Maria W., und mit ihr die gesamte Familie, ist davon überzeugt, dass Michael psychisch krank sein muss. Hans Wedler hingegen, der sich unseren fertiggestellten Film über die Funkstille angesehen hat, sieht überraschenderweise die Neigung zu psychischen Auffälligkeiten eher bei den Verlassenen. Er hält Lisa-Maria W. für einen hochneurotischen, jedoch nicht psychisch kranken Menschen. Aber sie habe eine narzisstisch-schizoid gefärbte Persönlichkeit, die er so beschreibt: »Zugrunde liegt eine tief verankerte panische Angst vor dem Verlassenwerden. Diese Angst überspielt sie durch ein dominantes, autoritäres Auftreten, mit dem sie alles in ihrem unmittelbaren Umkreis beherrscht. Sie bestimmt die Familienrituale mit eiserner Hand, ist hart und selbstgerecht.« Tochter Christine und Sohn Christian hätten sich der Mutter weitgehend untergeordnet und gelernt, mit ihr umzugehen, fährt der Experte fort. Sie hätten sich aber nicht wirklich aus

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