Funkstille
der Familie gelöst. Nur Michael sei es schließlich im fortgeschrittenen Alter von 33 Jahren gelungen, sich der mütterlichen Herrschaft zu entziehen. Natürlich bestünde auch die Möglichkeit, dass Michael eine schizoide oder emotional instabile Persönlichkeit sei, vielleicht sogar am Rande einer Psychose stehe, so der Fachmann. Dennoch vermutet er, dass die Störung eher bei Lisa-Maria W. liegt oder dass in der Vergangenheit etwas passiert ist, das als Familiengeheimnis gewahrt wird und dem Michael sich entziehen musste. Immerhin bleibe der Vater ja weitgehend im Nebulösen.
Majas Abbruch des Kontakts zur Mutter hält Professor Hans Wedler für konsequent und normal. Dieser sei schlicht die Reaktion auf eine offensichtliche Erpressung. Majas Schuldgefühle, die immer wieder durchbrechen, zeigen aber auch, dass ihre Abhängigkeit von der Mutter sehr stark gewesen sein muss. Dass die Mutter herrisch, dominant und übergriffig ist, kann ich bestätigen, und hierin ähnelt sie natürlich Lisa-Maria W.: »Der Abbrecher befreit sich aus der Vereinnahmung durch denjenigen, den er verlässt und der ihn für die Bewältigung eigener Lebensprobleme missbraucht oder zu missbrauchen versucht hat«, so Hans Wedler.
Nachdenklich wird der Experte auch bei Ute, die ihre Schwester Claudia auch nach so vielen Jahren nicht loslassen kann. Warum ist das so? Hans Wedler stellt die Vermutung auf, dass es auch bei Ute ein gravierendes Problem geben muss, über das sie nicht spricht und das mit Scham und starken Schuldgefühlen verbunden ist. Möglicherweise ist Claudia vor ihrer Schwester geflüchtet, weil diese sie zur Kompensation des Problems heranzog. Es geht also auf beiden Seiten um seelische Verletzung durch Kränkungen, um Symbiosen und Abhängigkeiten, Angst und darum, wie man mit alldem fertig wird.
»Es gab nur zwei Möglichkeiten, entweder ich gehe oder ich bringe mich um«, hatte Jan mir erzählt. Ich frage den Fachmann: Ist die Funkstille mit dem Suizid verwandt? »Ja«, so Professor Wedler, »die Funkstille ist die Vorstufe zum Suizid.«
Ich muss an die Äußerung eines Bekannten denken, mit dem ich über das Filmprojekt sprach: Einfach verschwinden, sich in Luft auflösen: Das ist wie sterben, ohne tot zu sein.
Die Funkstille – ein Suizid mit Notausgang?
»Die Funkstille ist schlimmer als ein Suizid«, so Eva Weissweiler, »weil der Mensch ja noch da ist und doch nicht greifbar.« Die Selbsttötung ist der endgültige Abbruch von Mitteilung und Austausch. Ist die Funkstille tatsächlich eine Vorstufe dazu? Ich habe während der vergangenen zwölf Jahre für die ARD und das ZDF mehrere Dokumentationen zum Thema Suizid realisiert und kann daher sagen: Die Funkstille kommt der Problematik der Selbsttötung gefährlich nahe. Wie der Suizid kappt sie von einem Augenblick zum nächsten das Band zwischen Menschen.
Die Funkstille aber – und darin liegt dann doch ein eklatanter Unterschied – ist ein Abschied zu Lebzeiten. Sie trifft, wie der Suizid, auch andere, denn kein Mensch lebt für sich allein. Jeder von uns ist immer auch Teil einer Gruppe. Der Suizident glaubt zwar, für sich selbst zu entscheiden, aber sein Entschluss trifft andere Menschen unmittelbar. Denn für die Hinterbliebenen ist in gewisser Hinsicht der Kontakt nicht nur zu dem Toten, sondern auch zum eigenen Leben abgerissen. »Wenn jemand meint, sich das Leben nehmen zu müssen, dann macht er auch mit dem anderen etwas, ob er will oder nicht«, so Professor Martin Teising. Ähnlich sei es bei der Funkstille, so der Psychiater: »Die Verlassenen denken zu Recht, dass da ein Teil von ihnen weg ist. Es ist unerklärbar, sie wissen auch nicht, ist der andere für immer weg oder nicht? Sie können auch keinen Ort ausmachen. Es verschwindet also ein Teil von einem, und man weiß nicht, warum oder wohin.«
Nun könnte man einwenden: Das passiert bei jedem Verlust, der betrauert werden muss. Unter normalen Umständen weiß man jedoch, was passiert ist und wo sich der Betroffene befindet. Bei Todesfällen können Beerdigungsrituale beim Abschiednehmen helfen. Bei der Funkstille aber kann man nicht abschließen, man bleibt im Zwiespalt, weil auch der Verlust uneindeutig ist. Diese Ambivalenz kann eine enorme Spannung erzeugen. Zumindest der Verlassene bleibt in einem Kreislauf von Vermutungen gefangen. Die kränkende Erfahrung wird immer wieder erneuert, es kann kein »Gras darüber wachsen«.
Der abwesende Mensch ist in den Gedanken des Verlassenen
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