Funkstille
kommen überein, dass es sich hier wohl eher um eine Oberfläche handelt, die die soziale Promiskuität geradezu fördere. Leidet die Gesellschaft unter ihrer Unreife und der Beziehungsunfähigkeit, und wie konnte es überhaupt soweit kommen? Für den Soziologen stellt sich die Situation folgendermaßen dar: »Das, was die Menschen zusammenhält, ist das Sozialkapital, das beschreibt, inwiefern sich Menschen auf andere einlassen oder nicht. Durch die Industrialisierung ist das Sozialkapital verschwunden, eine Fähigkeit, die eher Frauen mit sich brachten, die aber nun arbeiten und keine Zeit mehr für die Pflege von verbindenden sozialen Kontakten haben. Hinzu kommt, dass der Arbeitsplatz heutzutage selten nahe am Wohnort ist. Die Arbeitnehmer, Mann und Frau, pendeln, die Familie, aber auch die so wichtigen Freunde, kommen zu kurz. Nachbarschaftliche Beziehungen gehören längst der Vergangenheit an.
Hinzu kommt ein Bildungssystem, das die eigentlich Lernwilligen durch ein Nadelöhr von Prüfungen quetscht, so dass auch in der Schule oder an den Universitäten kaum noch Zeit für die tiefergehende Pflege von sozialen Kontakten besteht. Die Funkstille ist meiner Meinung nach eine Reaktion auf die Zumutungen von außen. Sie gibt es hundertmal am Tag im Kleinen, wenn man andere nicht versteht. Das ist ein Defekt, den man reparieren muss, wenn man miteinander auskommen will. Oft steckt eine psychoökonomische Kalkulation dahinter: Nachfragen ist zu anstrengend und kostet Nerven, allerdings verweigert sich dadurch der Schweigende der Chance, sich und sein Verhältnis zur Welt zu heilen.«
Helmut Dubiel sagt übrigens auch: »Die Fähigkeit Nein zu sagen gehört zu den schönsten Erfahrungen meines Lebens.« Doch es geht ihm um ein bewusstes Nein, nicht um eine Flucht oder Kapitulation. Und es geht ihm auch darum, dass dieses Nein respektvoll und klar kommuniziert wird. Natürlich hat es Beziehungsabbrüche immer und zu allen Zeiten gegeben. In einer Zeit aber, in der ständig nur noch flüchtig kommuniziert wird, gibt es auch mehr Missverständnisse, Kommunikationsschwierigkeiten und abgebrochene Verbindungen. Es scheint, als hätten wir heute alle Möglichkeiten, doch die menschliche Natur ist begrenzt, und die Schere zwischen dem Anspruch an uns selbst und den praktischen Möglichkeiten zur Realisierung dieses Anspruchs klafft weit auseinander. Für Beziehungen gilt dasselbe. Die Ansprüche an sie sind höher geworden. Unsere Partnerschaften und Freundschaften sollen uns erfüllen, uns Glück verschaffen. Wo ein Mensch für den anderen »alles« sein soll, ist die Funkstille auch Folge einer Überforderung. Man verfehlt einander und wendet sich enttäuscht und schweigend ab. Die Sehnsucht aber bleibt.
Achtes Kapitel
(K)ein Weg zurück?
Eiszeit mit Ende – Die Funkstille als Beziehungspause
Gibt es Wege aus der Funkstille, oder kann man umgekehrt mit ihr leben lernen? Kann eine Beziehung nach einem abrupten Kontaktabbruch wieder aufgenommen werden, oder hat die Funkstille möglicherweise gar etwas Gutes? Eindeutig beantworten lassen sich diese Fragen nicht, aber man kann versuchen, sich einer Antwort anzunähern. Ein erster Ausgangspunkt kann dabei die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs »Funkstille« sein. »Funkstille« ist, wie zu Beginn erwähnt, ein Wort aus der Schifffahrt. Es beschreibt die Einstellung des Funkverkehrs, um Notsignale – SOS – besser empfangen zu können. Die Funkstille ist Schweigen, in das hinein ein Notsignal gesendet wird. Das verschlüsselte Signal offenbart, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist ein Hinweis auf eine Störung, hinter der alles andere zurückstehen muss, damit sie nicht überhört wird. Übertragen auf die menschliche Kommunikation könnte man sagen: Die Funkstille ist ein Signal, das besagt: Bitte höre, was ich nicht sage.
Manchmal ist ein Bruch nötig, um deutlich zu machen, dass der Kontakt so nicht bestehen bleiben kann. Im Schweigen haben die Beteiligten die Möglichkeit, zu sich zu kommen, sich abzugrenzen, sich zu entwickeln oder eine belastende Konstellation endgültig zu beenden. Der Bruch mit der Vergangenheit kann befreiend sein, wenn man nach einer Weile Frieden mit ihr schließt. Bei der Funkstille aber ist dies kaum möglich, gerade weil kein Schlussstrich gezogen wurde. Besser wäre es, nach einer Zeit des Sich-Zurückziehens wieder in Kontakt zu treten, um den Konflikt zu besprechen, ihn vielleicht gar zu lösen oder auch, um endgültig Abschied
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