Funkstille
telefonierten, stritten wir uns. Er meinte mal: ›Ist dir eigentlich klar, dass du mir meine gesamte Jugend verdorben hast?‹ Ich fragte: ›Warum?‹ Er sagte: ›Du hast mir den Schwanz wegsozialisiert. Du hast mich nicht Mann werden lassen.‹
Ich war sprachlos. Jan erklärte nicht, wie er darauf kam. Er ließ mich auch nicht erklären, warum ich das anders sehe. Der Vorwurf war: Du hast alles falsch gemacht! Dann sagte ich: ›Du hast doch auch einen Vater gehabt. Warum habe nur ich alles falsch gemacht?‹ Dann kam: ›Lass’ den Vater aus dem Spiel !‹ Er lud alles auf mich ab, weil er seinen Vater nicht greifen konnte. Der war nicht präsent, der war im Ausland, und außerdem hätte der sich so etwas auch niemals angehört. Der wäre aufgestanden und gegangen.« Damals ging Jan – offenbar hatte er mehr mit seinem Vater gemein, als er dachte.
Isabella M. und ich schweigen nach diesen offenen Worten eine Weile. Dann breche ich das Schweigen, schildere Jans Sicht der Dinge. Das Verhältnis sei zu symbiotisch gewesen, und deshalb habe er sich abgrenzen müssen, hat Jan mir erklärt. Er habe nur zwei Möglichkeiten gesehen: entweder sich umzubringen oder aber, den Kontakt abzubrechen, so waren seine Worte. Isabella M. wirkt erschöpft, als sie mir antwortet: »Er kam mit dem Ödipuskomplex. Aber ich habe ihn doch nicht angefasst oder vergewaltigt. Was soll man dazu sagen?«
Wissen wollen, woran man ist
»Warum?« ist die Frage, um die alle Verlassenen kreisen, die sie kaum etwas anderes denken lässt. Hätte der Abbrecher sich erklärt und wäre dann gegangen, könnten die Verlassenen zumindest die gemeinsame Geschichte abschließen. Sie könnten das Ende akzeptieren oder auch nicht, aber sie wüssten wenigstens den Grund, könnten trauern, hoffen, gar einen Schlussstrich ziehen. Aber so? Die Situation ist ähnlich wie bei einem Verschollenen. Der Verlust ist uneindeutig. Der Zurückgebliebene kann nicht endgültig abschließen, schließlich gibt es keine Leiche. Zu drastisch? Nein. Denn der Abbrecher ist ja verschwunden, und der Verlassene durchläuft einen Trauerprozess, als ob der Abbrecher gestorben wäre. Für den Verlassenen gibt es wie für Hinterbliebene nach einem Todesfall die Zeit des Leugnens, der Gefühlsausbrüche, des Abschiednehmens, der Erschöpfung und des Neubeginns. Die einzelnen Trauerphasen überlappen einander, fallen zusammen oder vermischen sich.
Die Gefühle der Verlassenen erinnern mich an das, was mir Hinterbliebene nach einem Suizid geschildert haben. Der Suizid ist der konsequenteste Kontaktabbruch. Aber was ist dann die Funkstille: ein Suizid mit Notausgang? Der Psychoanalytiker Udo Rauchfleisch unterstreicht den Gedanken: »Der Kontaktabbruch ist eine absolute Grenze, denn er verhindert ja jeglichen Eingriff, jeglichen Übergriff, eben jegliche Kontaktaufnahme. Das ist fast wie beim Suizid, nicht ganz so radikal und unverrückbar, aber doch ähnlich … es ist eine ganz harte Grenze, die nicht zu durchstoßen ist.«
Die Funkstille ist offenbar ein Phänomen, das eher enge Beziehungen betrifft – darin liegt das Schmerzhafte, aber auch eine Chance, so der Hamburger Psychotherapeut Robert Stracke: »Ich denke, dass bei vielen Abbrechern sehr heftige Gefühle für denjenigen da sind, zu dem der Kontakt abgebrochen worden ist. Das zeigt schon die Art und Weise, wie der Kontakt abgebrochen worden ist. Wenn es mir egal wäre, welche Gefühle ich einem anderen Menschen gegenüber habe, dann kann ich anrufen und sagen: Ach, weißt du was, du interessierst mich einfach nicht mehr. Dann hat sich das. Aber das passiert ja gerade nicht. Wenn man nicht darüber spricht, über diese Dinge, die da sind, und sich einfach zurückzieht, dann wird das in den häufigsten Fällen auf der Grundlage von sehr starken Gefühlen bei den Abbrechern der Fall sein.«
Ein weiterer Gedanke, der die Verlassenen immer wieder umtreibt: Er/sie kennt mich doch, müsste doch wissen, wie sehr es schmerzt, nicht zu wissen, was los ist. Letzteres ist ein Grundbedürfnis, so Stracke: »Man möchte wissen, woran man ist, und man möchte gerne auch die Möglichkeit haben, die Situation mitzubestimmen. Es geht um das Grundbedürfnis nach Kontrolle.«
»Es gibt nichts, was mich so aus der Bahn geworfen hat«
Ich treffe einen etwa 50-jährigen Mann zum Vorgespräch in einem Theatercafé in der Hamburger Innenstadt. Viel weiß ich bis dahin nicht von ihm: Er ist Wissenschaftler, verheiratet, hat zwei Kinder und
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