Funkstille
Mut zusammennehmen, um sie zu treffen. Und dann? Was erwartet sie? Wie soll es weitergehen? Das sind Fragen, die sich Ute noch nicht stellen mag. Sie weiß nach 17 Jahren nur: »Es ist immer da, wie eine Hintergrundmusik, und ich kann es nicht mehr aushalten.«
Wir – meine Kamerafrau, ihre Assistentin und ich – begleiten Ute im ICE nach Berlin. Sie erzählt viel aus der wenig glücklichen Kindheit, aber auch über ihre Arbeit, die Kinder und den Job. Ute ist aufgeregt. Das Reden soll vielleicht ihre Unsicherheit verdrängen. Ihr scheint es recht zu sein, dass wir mitreisen. Natürlich hätte sie gerne Annika dabeigehabt, aber ihre Tochter hat nicht freibekommen. Als wir abends in einem kleinen französischen Lokal in Berlin zusammensitzen, erzählen meine Kolleginnen, dass auch sie jemanden kennen, der den Kontakt abgebrochen habe. Das höre ich oft, wenn ich anderen Menschen erzähle, an welchem Thema ich gerade arbeite. Fast immer kennt einer jemanden, der den Kontakt abgebrochen hat oder jemanden, der darunter leidet. Interessanterweise meint unsere Kamerafrau, dass Utes Schwester doch offenbar keinen Kontakt wolle und dass man sie wohl lieber in Ruhe lassen solle. Der Abend wird lang, ein Hin und Her zwischen Abwägungen und Ermutigungen, eine versuchte Vorwegnahme aller Eventualitäten. Ute wird immer schweigsamer. Jedenfalls ist allen klar, dass nicht gedreht wird, wenn Ute in das Haus ihrer Schwester geht, um sie zu treffen.
Am folgenden Tag erklärt ihr die sympathische Geschäftsführerin der Vermisstenagentur, dass sie Claudia gefunden habe und dass sie tatsächlich in Berlin lebe, es aber nicht ihrer Geschäftsphilosophie entspräche, die Adresse weiterzugeben, bevor man mit der verschollenen Person selbst gesprochen habe, um herauszubekommen, ob diese den Kontakt überhaupt wolle.
Nach dem Treffen in der Agentur ist Ute verunsichert. Wir erwägen schon, zurück nach Hamburg zu fahren, als der Gedanke aufkommt, es beim Einwohnermeldeamt zu versuchen. Und tatsächlich: Ute bekommt Claudias Adresse. Am nächsten Tag will Ute endlich ihre Schwester wiedersehen, nach 17 Jahren des Schweigens den Faden wieder aufnehmen und endlich erfahren, was Claudia so verletzt hat, dass sie beschloss, den Kontakt abzubrechen. »Überhaupt, wenn man den Kontakt zur Familie abschneidet, ist das doch so, als ob man seine Wurzeln abschneidet«, sagt Ute nicht zum ersten Mal. Also, sie könne das nicht.
Unsere Kamerafrau sieht das anders. Es könne ja auch eine Befreiung sein, gibt sie vorsichtig zu bedenken. Doch ich bin da eher bei Ute: Sollten die Lebensphasen nicht miteinander verbunden sein, damit das Leben einen Sinn hat? Unsere Kamerafrau findet aber, dass man auch manchmal mit Dingen, Menschen oder Orten abschließen muss, um neu beginnen zu können. Aber die Funkstille sei ja kein Abschluss, kontert Ute, und sie hat damit eigentlich Recht, finde ich: Die Funkstille ist ein Schwebezustand, wie das Drücken einer Pausentaste.
Die noch sehr junge Assistentin wirft ein, dass die Familie doch immer Teil der Biografie bleibe. Warum solle man das streichen und wieder bei Null anfangen? Nur im Rückbezug auf das Vergangene könne man doch reifen, meint die 23-Jährige.
Ute denkt bei alledem offenbar auch an ihren Mann. Die Scheidung läuft, und sie hat die Trennung längst noch nicht verarbeitet. Andererseits erzählte Annika mir, als wir uns einmal alleine trafen, dass ihre Mutter seit der Trennung richtig aufgeblüht sei. Und tatsächlich sieht man auf alten Fotos eine Frau, die in der Zeit der Familiengründung und danach nicht allzu viel aus sich gemacht hatte. Als junge Frau aber war sie bildhübsch. Heute erkennt der Betrachter diese junge Frau in Ute wieder. Sie kleidet sich modisch, der Haarschnitt ist mutig, die Haare stehen weiß in alle Richtungen und das Gesicht ist sorgfältig geschminkt. Die Trennung hat Ute gut getan. Bei diesem Bruch wusste sie allerdings auch, warum er passierte. Sie und ihr Mann hatten sich einfach nicht mehr viel zu sagen, der Alltag hatte ihre Liebe aufgefressen, wie bei so vielen Paaren, der Reiz war weg. Wir reden an diesem Abend in Berlin Mitte über vieles, wenig aber über den bevorstehenden Besuch. Ute ist nervös. So sehr sie diesen Tag herbeigesehnt hat, so sehr ängstigt sie das Wiedersehen auch. Aber sie ist zuversichtlich. Claudia wird sich freuen, sie werden sich wieder annähern, und Ute wird endlich Antworten auf ihre Fragen bekommen.
Berlin-Charlottenburg: Ute ist
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