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Funkstille

Funkstille

Titel: Funkstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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wohnt in einem der besseren Stadtteile von Hamburg. Dennoch habe ich eine bestimmte Vorstellung von diesem Menschen. Es erstaunt mich immer wieder, dass die Stimme am Telefon und wenige Informationen ausreichen, um sich ein Bild von jemandem zu machen. Mehr noch: Meistens stimmt dieses Bild. Die Farben sind manchmal schwächer oder stärker, aber die Wirkung ist oft die erwartete.
    Im Café wartet pünktlich der Wissenschaftler, dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Nicht der Typ zerstreuter Professor. Er wirkt aufgeräumt und zufrieden mit seinem Leben, ist stolz auf das, was er erreicht hat, auf die Kinder, das Haus und eine nicht minder erfolgreiche Gattin. Keiner, der neidisch oder gar missgünstig ist. Er wirkt ziemlich perfekt, wie er mir da gegenübersitzt und eloquent parliert. Einer, der weiß, was er will und wer er ist, kein Zaudernder. Ich spüre, wie zerbrechlich und empfindlich diese perfekte Welt sein muss, weil er so ist, wie er ist, kann es aber noch nicht genau definieren. Nachdem wir über gemeinsame Themen gesprochen haben – ich habe einige wissenschaftliche Dokumentationen realisiert, und er hat zufällig ein paar davon gesehen – tauschen wir uns ein bisschen darüber aus, woher die Affinität zu wissenschaftlichen Themen kommt. Er wird viel von sich preisgeben, da ist es nur legitim, wenn er wissen will, wer die Frau ist, die ihn ausfragt. Ich habe zwei Physiker als Geschwister, was ihn, den Chemiker, offensichtlich beeindruckt, und so gibt es eine Ebene des Verstehens, und nach einer Weile beginnt er zu erzählen.
    Seine Schwester habe vor einigen Jahren den Kontakt zu ihm abgebrochen, er wisse aber absolut nicht, warum, und dies mache ihn geradezu wahnsinnig. Warum tut sie das, was sie tut, fragt er sich immer wieder. Er kann keine benennbare Verletzung ausmachen, es gab keinen Streit, keine Auseinandersetzung. Kabbeleien unter Geschwistern, ja, aber: Wie unterscheidet man, ob man eine Empfindung wichtig nehmen oder sie wie eine leichtgewichtige Laune behandeln soll? Ja, er habe vielleicht kleine Giftpfeile abgeschossen, seine Schwester getriezt, dass sie doch mal eine Sache zu Ende verfolgen solle, aber das sei doch kein Grund, den Kontakt abzubrechen, klagt er.
    Er, als Mann, ist genauso gekränkt wie Ute oder Lisa-Maria W., und die Funkstille kratzt mehr an seinem Selbstbewusstsein, als er zugeben kann. Er liebt seine Schwester, das ist klar, aber war er wirklich für sie da? War nicht immer er der Star der Familie und sie die kleine Schwester, diejenige, die nichts zu Ende brachte? Er hatte Karriere gemacht, war der Erfolgreiche, die Schwester dagegen – nicht weniger talentiert – war zögerlicher. Mit der Funkstille hat sie ihm gezeigt, dass sie die Macht besitzt, ihn zu verunsichern, ihn aus dem Konzept zu bringen.
    Wahrscheinlich denkt der Wissenschaftler seit der Funkstille zum ersten Mal intensiv über seine Schwester nach, überlege ich, und vielleicht war das sogar ihr Anliegen. Ist der Schmerz nicht der Stachel, der uns immer aufs Neue zum Nachdenken über unser gesamtes Leben nötigt?
    »Es gibt nichts, was mich in meinem Leben so aus der Bahn geworfen hat«, gibt mein Gesprächspartner schließlich zu. Tränen füllen seine Augen. Jaja, er sei ja ein eher wenig emotionaler Typ, hoffe er zumindest, und habe alles analytisch abgeklopft: Warum das Verhalten seiner Schwester ihn so ratlos zurücklässt, warum es ihn so trifft. Was er, wenn überhaupt, wohl falsch gemacht habe. Und im Laufe des Gesprächs wird klar: Das Verhalten der Schwester sollte ihm etwas klar machen. Er ahnt es und schweigt.
    »Es ist immer da, wie eine Hintergrundmusik«
    Auch Claudias Schweigen soll Ute etwas mitteilen, aber sie weiß einfach nicht, was. Deshalb fasst sie einen Entschluss. Sie wird ihre Schwester suchen lassen. In Berlin gibt es eine Agentur, die »Wiedersehen macht Freude« heißt und Vermisste aufspürt. Ute will erfahren, wo ihre Schwester lebt, falls sie überhaupt noch lebt. Sie will wissen, wie es Claudia in den vergangenen Jahren ergangen ist und natürlich, warum sie sich von ihrem alten Leben so rigoros getrennt hat.
    Ute hat einige wenige Informationen, was den Verbleib ihrer Schwester betrifft. So weiß sie zum Beispiel, dass ihre Schwester eine Boutique in Berlin haben soll. Oder ist sie dort nur angestellt? Jedenfalls sei die Boutique doch ein Anhaltspunkt, meint Ute am Telefon, fast schon euphorisch. Ja, sie werde nach Berlin fahren, ihre Schwester suchen und all ihren

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