Furor
präkolumbianisches Messer, mit dem die frühen peruanischen Kulturen Schädeloperationen durchführten, um böse Geister aus dem Kopf kranker Menschen zu befreien. Doch Sebastian hatte sich nie Gedanken über die Herkunft gemacht. Und von dieser Arbeit an einem Stressmedikament auf Coca-Basis hatte er auch noch nie gehört. Er las weiter.
Eine entsetzliche Katastrophe! Wie konnte das nur passieren? Die Vorversuche sind doch alle problemlos verlaufen. Wir machen hier sofort alles dicht und verschwinden. Zum Glück weiß außer uns, den Soldaten und Bartolo niemand etwas davon. Er und Dietz, dieser Regierungsvertreter, haben uns versichert, niemand würde von dem »Unfall« erfahren. Dietz hat uns zugesagt, die Regierung würde die Verantwortung gegebenenfalls den Terroristen in die Schuhe schieben. Ich habe furchtbare Alpträume. Garland hat eine Vermutung. Er war selbst nicht dabei und ist auch danach völlig cool geblieben. Auch Frank war nicht dabei, war mit Kopfschmerzen im Institut geblieben. Ich wollte, ich hätte Garlands Nerven. Seine Hypothese: Koinzidenz-Katastrophe. Er nimmt an, dass etwas in den Konserven oder im Bier war, das sich nicht mit unserer Substanz vertragen hat. Jo und Matthias sind nicht mehr ansprechbar, Jo hat versucht, sich umzubringen, Matthias hat sich vollkommen insich zurückgezogen. Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Wir drei waren dabei. Wir haben mit den Soldaten gegessen und getrunken. Und wir waren beteiligt an dem, was dann geschah. Gott vergebe mir, was haben wir getan? Übermorgen fliegen wir ab. Ich denke, wir werden [. . .]
Hier brach der Brief ab. Sein Vater hatte ihn nie abgeschickt, seine Mutter hatte ihn vermutlich nie gesehen. Sebastian wurde nicht schlau aus dem, was da stand.
Lannert riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich glaube, ich habe die wichtigsten Unterlagen zusammen. Ich seh mir das in Ruhe an, dann besprechen wir alles Weitere.
Sebastian nickte. »Okay. Kann ich noch was tun?«
»Nein, im Moment nicht. Wir müssen warten, was passiert. In welches Krankenhaus ist Christian eigentlich gebracht worden?« Lannert begann, die Akten in seine Tasche zu stopfen.
»Klinikum Innenstadt. Das liegt ja direkt neben dem Institut.«
Lannert schüttelte den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben. Das kann alles nicht wahr sein.« Sebastian sah, dass die Augen des Anwalts feucht schimmerten. In seinem Hals bildete sich ein Kloß. Fang bitte nicht an zu weinen, bat er im Stillen. Lannert fuhr sich mit der Hand über die Augen und riss sich zusammen. »Okay, Sebastian. Ich lass dich dann wieder alleine. Wenn das in Ordnung ist?«
Sebastian nickte und vertiefte sich sofort wieder in die Aufzeichnungen seines Vaters, versuchte zu verstehen, worum es in dem Brief ging. Es gab ein paar Namen: General Bartolo, J. W. Berthold, M. Koch, G. Steadman, Wallroth und dieser Dietz von irgendeiner Regierung. Dietz, den Namen hatte er heute schon einmal gehört . . . Ach ja. Der Fettsack heute morgen hatte sich so vorgestellt. So ein Zufall. Jo war vermutlichJ. W. Berthold, Matthias M. Koch, Garland G. Steadman. Steadman und Wallroth arbeiteten noch immer mit seinem Vater zusammen. Hatten gearbeitet. Also: Vier vermutlich deutsche Forscher und der Amerikaner Steadman hatten offenbar in den Anden einen Versuch gemacht, an dem Soldaten beteiligt gewesen waren. Und der war schief gegangen. Sebastian öffnete nochmals das Tagebuch und suchte die Seite, wo er den Namen des Generals gelesen hatte. Er notierte das Datum und den Namen San Mateo. Dann packte er den Brief und das Tagebuch ein.
Wenn Christian Raabe seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte, warum hatte er es getan – und warum auf so bizarre Weise? Was war in Südamerika passiert? Wie war das Passwort? Sebastian hatte eine Menge Fragen.
Als er die U-Bahnstation Theresienwiese verließ, knallten dicke Regentropfen auf den Bürgersteig. Die einzelnen Tropfen wirkten wie hingespuckt und fühlten sich auf dem Gesicht auch so an. Er klappte den Kragen der Lederjacke hoch. Niedrig hängende Regenwolken schluckten die letzten Reste von Sonnenlicht. Die Leuchtreklamen der Geschäfte spiegelten sich verzerrt auf der feuchten Straße und vermischten sich im Dunst der Gullideckel mit den Werbebildern, die direkt auf den Boden projiziert wurden, zu einem bunten Farbensalat. Sebastian musste sich gegen den Wind stemmen, während er über das Kopfsteinpflaster der Schwanthalerstraße hastete.
Auf dem Bürgersteig vor seinem Haus
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