Furor
Morgen
Sebastian wachte mit einem miesen Gefühl auf. Er hatte schlecht geträumt, konnte sich aber nicht mehr erinnern, was. Eine Ahnung sagte ihm, dass es um seinen Vater gegangen war. Jetzt lauert dieser Traum irgendwo in meinem Gehirn, dachte er, und wartet darauf, dass ich wieder schlafe, um dann im Dunkeln hervorzukriechen und mir die nächste Nachtruhe zu versauen. Er stand auf und schlich eine Weile in der Wohnung umher, als wäre es nicht seine. Schließlich ging er ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Frischer fühlte er sich danach nicht. Erst die Dusche zeigte Wirkung. Als er sich rasierte, war er einmal mehr froh, dass sein Spiegelbild nicht mehr den pausbäckigen Jungen zeigte, in dessen Gesicht man die Barthaare noch mit der Lupe hatte suchen müssen. Er hatte sich spät entwickelt, aber jetzt, mit fünfundzwanzig, war er ganz zufrieden. Er fand, dass er wie Paul Newman aussah. Wenigstens ein bisschen. Und zum ersten Mal erkannte er auch Christian Raabes Züge in seinem Gesicht.
Der Instituts-Hörsaal füllte sich langsam mit Studenten. Sebastian entdeckte Mato und Robert und warf sich in den Stuhl neben ihnen. Mato sah ihn aus traurigen Augen an und drückte ihm die Hand. »Mensch, wie geht’s dir inzwischen?« Robert nickte ihm zu.
Professor Steadman hatte Sebastian gesehen und hob die Hand zum Gruß. Sebastian nickte. Er dachte an den Brief seines Vaters. Ob ihm Steadman sagen konnte, was in Peru vorgefallen war? Mato tippte ihn an. »Hey, ich weiß inzwischen, was ›Mellon‹ bedeutet.«
Steadman begann nicht gleich mit der Vorlesung. »Verehrte Damen und Herren«, begrüßte er die Studenten. »Sie haben es sicherlich schon erfahren: Unser Direktor, Professor ChristianRaabe, liegt seit gestern Morgen mit schwersten Hinverletzungen im Krankenhaus. Er wird nicht mehr an das Institut zurückkehren.« Steadman senkte den Kopf und ging vor der großen Tafel auf und ab. Er sah aus wie diese unsympathischen Figuren aus einem Roman von Charles Dickens. Dürr und irgendwie staubtrocken. Auf seiner dünnen Nase saß eine Nickelbrille. Sein zugeknöpfter, blütenweißer Laborkittel reichte ihm bis unter die Knie. Steadman arbeitete schon lange nicht mehr selbst im Labor, aber der Kittel musste sein. Lächerlich, fand Sebastian.
»Professor Christian Raabe ist hirntot, und Sie alle wissen, was das bedeutet«, fuhr Steadman fort. Sein Akzent verriet ihn auch nach zwei Dutzend Jahren in Deutschland noch als Amerikaner. »Ich denke, ich mache mich keiner Geschmacklosigkeit schuldig, wenn ich deshalb bereits jetzt Folgendes sage.« Steadman blieb stehen und blickte ins schweigende Auditorium. »Wir werden Christian Raabe als vorbildlichen Wissenschaftler in Erinnerung behalten. Sie erhalten hier an seinem Institut eine große Chance. Bemühen Sie sich, sich seines Instituts würdig zu erweisen. Auf diese Weise ehren Sie am besten sein Andenken. Aber nun zum Thema meines Vortrags.« Steadman begann, etwas Unleserliches an die Tafel zu kritzeln.
Sebastian konnte sich nicht konzentrieren. Er dachte über den seltsamen Satz auf dem Bildschirm seines Vaters nach. Sobald Steadman fertig war, würde er Mato nach »Mellon« befragen. Mato saß ganz gerade und versuchte, über die Reihe von Studenten vor ihm hinweg zu erkennen, was Steadman an die Tafel schrieb. Der Chinese war nur einen Meter sechzig groß und litt unter einer beginnenden Glatze. Robert neben ihm überragte alle übrigen Studenten um gute zwanzig Zentimeter. Seinen Kopf bedeckte eine Flut brauner Locken, die ihm über den Kragen des alten, braunen Ledermantels hingen, den er trotz der Wärme anhatte und in dem er dank der ausladendenSchultern wie ein Bär wirkte. Sebastian war mit Robert nie richtig warm geworden. Mato brachte ihn gelegentlich mit, wenn sie sich abends trafen, und Sebastian erinnerte sich an einige witzige Treffen – aber Robert blieb seltsam verschlossen. Er verbrachte die meiste Zeit vor seinem Computer.
Später in der Cafeteria setzte Robert sich zu Mato und Sebastian. Etliche Leute kamen zu Sebastian und schüttelten ihm die Hand. Dann waren sie wieder allein.
»Also, pass auf . . .« Robert nickte seinem Freund zu. »›Mellon‹ ist ein Begriff aus ›Der Herr der Ringe‹«, erklärte er.
Sebastian kannte zwar Titel und Film, hatte das Buch sogar von seinem Vater bekommen, es aber nie gelesen.
Mato war erstaunt. »Noch nicht gelesen? Also, lohnt sich!«
Robert warf seinen Rucksack auf den Tisch und
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