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Gabe des Blutes

Gabe des Blutes

Titel: Gabe des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacquelyn Frank
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er genauso barsch. »Ich werde dich mehr beschützen müssen, wenn du das Verbrechen begangen hast. Sag mir, woran du dich erinnerst, Kébé . Deine Eltern sind gestorben? Wie?« Sie blickte ihn überrascht an, weil sie dachte, er würde der Sache auf den Grund gehen, anstatt sich mit nebensächlichen Erinnerungen aufzuhalten. Er bedachte sie mit einem kleinen Lächeln und strich ihr mit dem Daumen über die Stirn. »Erzähl es mir«, ermunterte er sie.
    »Meinen Vater – meinen leiblichen Vater – kenne ich nicht. Ich glaube nicht, dass ich ihm je begegnet bin. Oder ich erinnere mich einfach nicht mehr daran. Aber ich erinnere mich an meine Mutter und an meinen Stiefvater. Seltsamerweise erinnert Rye mich an meinen Stiefvater. Der frühere Rye, meine ich. Entspannt, liebenswürdig und ein unverbesserlicher Schürzenjäger. Ein Händler. Sehr erfolgreich. Ich … ich glaube, Knar und er waren befreundet. Ich erinnere mich …« Sie erschauerte und schmiegte sich an ihn, wobei sie ihre schmalen Arme fest um seinen Rücken schlang. Er verlor den Blickkontakt mit ihr, und er beließ es erst einmal dabei. Vielleicht konnte sie ihre Erinnerungen besser ordnen, wenn sie, wie jetzt, mit fest geschlossenen Augen nur zu sich selbst sprach. »Es ist verwirrend. Wenn ich anfange, über eine Sache zu reden, springen meine Gedanken auf einmal zu etwas anderem, und ich weiß nicht … ich weiß nicht, wohin das alles gehört.«
    Er wusste, dass in diesen Gedankenblitzen ihr Trauma lag. Er konnte sie spüren, sie lesen. Manchmal führten die Blitze zurück, wie wenn Darcio ein Körpergedächtnis durchging. Sie versuchte ihn abzuwehren, doch sie war zu überdreht. Sie hörte auf zu sprechen und merkte, als er in ihren Verstand schlüpfte, um direkt mitzulesen. Ein Großteil davon war in Yesu, einer Sprache, die er nicht verstand. Es schien sich dabei hauptsächlich um ihre Jugend zu handeln. Die gemeinsame Sprache oder Handelssprache, eine viel einfachere Sprache, die unter den Stämmen gesprochen wurde, tauchte erst auf, als sie älter war. Bei ihm war es ähnlich gewesen. Sie hatten die gemeinsame Sprache während ihrer Reisen durch die Wildnis gelernt.
    Wie ihm klar wurde, waren die Yesu ein viel größeres Volk, als er angenommen hatte. Seine Vorstellung von dem Gebiet in den Bergen hinter ihnen war völlig falsch. Die meisten Erinnerungen kreisten um eine kultivierte Frau mit vornehmem Auftreten und mit einer Art, als würde sie sich die ganze Zeit über ihre Umgebung lustig machen. Sie lächelte, und sie neckte die anderen, während sie verbesserte und anleitete und zurechtwies. Das war die Frau gewesen, die Mystique Toleranz beigebracht und ihren sympathischen, vornehmen Charakter geformt hatte. Ihr geschäftstüchtiger Stiefvater, den sie als ihren richtigen Vater betrachtete und den sie abgöttisch geliebt hatte, ähnelte Rye in Dingen, die sie an diesem noch gar nicht kennengelernt hatte. Ein Kämpfer, ein Überlebenskünstler und einer, der über alles verhandelte, nur nicht über das Recht, sein Leben zu leben.
    Das war der Mann, der ihr Geduld und Witz beigebracht hatte und ihr diplomatisches Geschick, Wut und Gewalt zu unterbinden, bevor die Gräben zu tief wurden. Zum Entsetzen ihrer Mutter hatte er ihr auch beigebracht, dass Hosen zu tragen, zu jagen, zu reiten und zu kämpfen genauso nützlich war wie gute Manieren und damenhafte Eleganz. Er war der Grund, dass sie es nicht ertragen konnte, dass Reule die Hand gegen Rye erhob. Reule verspürte einen Anflug von Eifersucht, als ihm klar wurde, dass die Verbindung mit Rye auf Dauer bestehen bleiben würde, weil er ihrem Vater so ähnlich war.
    »Er war ein guter Mann. Alle beide sind gute Männer«, murmelte sie. »Als er merkte, dass ich anders bin, hätte Kisto erschrecken und mich und meine Mutter verstoßen können, doch stattdessen hat er mich angenommen.«
    »Du warst seine Tochter, und er hat dich geliebt«, flüsterte Reule beruhigend.
    »Die meisten Yesu haben diese Intuition. Doch nur ganz wenige von uns sind anders. Ein paar Stämme fürchten sie und lehnen sie ab, andere dulden sie, und wieder andere akzeptieren sie rückhaltlos. Die Atham haben mich geduldet. Weil ich heilen konnte. Es war in ihrem eigenen Interesse, und Kistos Ansehen und sein Stand haben mich geschützt.« Ihr Lachen war bitter. »Solange er lebte. Als er starb, blieb erst einmal alles ruhig, wurde weder schlechter noch besser, und dann, eines Tages … ist alles anders

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