Gaelen Foley - Amantea - 01
Temperament zu zügeln.
Stelle die Frage anders, Junge. Betrachte die Sache einmal von einem anderen Standpunkt.
Es vergingen einige Momente, in denen sich Lazar nicht zu rühren vermochte und nicht zu atmen wagte.
Vielleicht, grübelte er, bin ich so sehr in meinen Zorn über mein Unglück und die Frage, warum es geschehen ist, vertieft, dass ich niemals auf die Idee gekommen bin, stattdessen dankbar dafür zu sein, was ich tatsächlich habe.
Als ihm bewusst wurde, dass es so vieles gab, wofür er dankbar sein konnte, war er fassungslos. Dreizehn Jahre hatte er eine Mutter besessen, die ihn bewundert und ge- liebt hatte, einen Vater, der ein Held aus dem griechischen Altertum zu sein schien.
Er hatte einen ernsthaften kleinen Bruder und eine kleine Schwester mit einem lustigen Kichern gehabt.
Durch ein Wunder hatte er, Lazar, den Sturm und sei- nen Sprung ins Meer überlebt. Er hatte Freunde gefunden, wenn er sie am meisten gebraucht hatte. Er war am Leben, er war stark, und mit Hilfe der Tochter seines Erzfeindes war ihm die größte Herrlichkeit, die das Leben zu bieten hatte, widerfahren – bedingungslose Liebe.
Allegra hatte ihn vorbehaltlos geliebt. Und dies war das größte Geschenk, das er je erhalten hatte.
Gedankenverloren blickte er in die Ferne und fühlte sich zum ersten Mal seit langer Zeit völlig ruhig.
Allegra lebte. Allegras Liebe war ein Wunder. Und wenn tatsächlich ein Fluch auf ihm lasten sollte, dann war wahrhaftig ihre Liebe stark genug, um ihn zu brechen.
Mit einem Gefühl tiefster Demut schaute er auf das wogende Wasser, und einen Moment senkte er den Kopf.
„Gott, ich danke dir“, sagte Lazar und schloss die Augen.
Dann erhob er sich wieder. Es gab keinen Moment mehr zu verlieren. Schon jetzt hatte er viel zu viel Zeit vergeudet.
Was wäre, wenn sie ihm nicht vergeben würde? Dieser Gedanke war so schrecklich, dass er nicht länger darüber sinnieren wollte.
Als er raschen Schrittes zu der wartenden Kutsche zu- rückkehrte, versicherte er sich innerlich, dass er sie einfach
entführen und erneut dazu zwingen würde, ihn zu lieben, falls sie ihn zurückweisen sollte.
Es würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Er würde sie so lange lieben, bis jeder Widerstand in ihr gebrochen wäre.
Lazar verlangte einen Rappen von einem der Höflinge, entschuldigte sich mit knappen Worten bei der Prinzessin und schwang sich dann ohne weitere Erklärung in den Sattel.
Ungeduldig riss er sich das seidene Halstuch und den Rock aus Satin herunter und ließ die Sachen achtlos zu Boden fallen. Er hatte schon den ganzen Tag den Eindruck gehabt, an dieser verdammten Vornehmheit ersticken zu müssen.
Dann galoppierte er zum Kloster, als wäre der Teufel hinter ihm her. Lazar hatte nur noch ein Ziel vor Augen.
Er würde Allegra anflehen, ihn wieder aufzunehmen, bevor sie noch einen weiteren wertvollen Moment ihrer Zeit sinnlos vergeudeten. Denn er wollte den Rest seines Lebens auf dieser Erde mit ihr verbringen.
Allegra saß nach dem Vespergottesdienst noch lange allein in der Kapelle. Sie trug das schwarze Novizinnengewand, das ihr die Mutter Oberin gegeben hatte.
Geistesabwesend spielte sie mit einer Locke, die sie sich um den Finger wickelte, und dachte darüber nach, dass sie ihr Haar abschneiden müsste, wenn sie in den Orden eintrat.
Das würde Lazar sicher nicht gefallen.
Sogleich verspürte sie einen schmerzhaften Stich – wie jedes Mal, wenn sie über den König nachsann. Sie seufzte, und ihre Augen wurden feucht.
Hör auf damit, ermahnte sie sich streng und schaffte es, nicht zu weinen.
Die Votivkerzen flackerten und erhellten das Gesicht der bleichen Marmormadonna, die in einer Nische stand. Von fern vernahm Allegra den glockenhellen Gesang der Non- nen. Der zarte Duft der Wildblumen, die auf den kleinen Steinaltar gestellt worden waren, erfüllte die Luft.
Endlich erhob sie sich von der Kirchenbank, machte erschöpft eine Verbeugung und verließ die Kapelle. Wäh- rend sie unter dem dunklen Gewölbe entlangging, erschien sein Gesicht vor ihrem geistigen Auge – die dichten langen
Wimpern, die klaren Züge. Sie erinnerte sich an sein sinnli- ches Lachen, sein schalkhaftes Grinsen und den Ausdruck der Verzückung, wenn sie sich liebten.
Allegra Monteverdi, das sind nicht die Gedanken einer Nonne.
Sie schlang die Arme um sich, als sie durch die Halle schritt, denn auf einmal verspürte sie wieder so schmerz- lich den Verlust, dass sie das Gefühl hatte, vor Trauer
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