Gaelen Foley - Knight 02
Brief-
chen noch fünf Mal, wobei ihr das Herz vor Angst und Erre- gung bis zum Hals schlug. Was will er denn jetzt noch, frag- te sie sich und versuchte, richtig ärgerlich zu werden. Sollte sie der Aufforderung überhaupt Folge leisten?
Besonders viel konnte sie nun nicht mehr essen. Das Mäd- chen hielt ihr die Teetasse hin, doch Alice zitterte dermaßen, dass ein paar Tropfen auf die Untertasse und beinahe auf ihr Kleid schwappten. Mehr als eine Scheibe Toast mit Marme- lade brachte sie nicht hinunter. Sie musste zugeben, dass sie höchst neugierig war, ihn ein letztes Mal zu treffen. Eigent- lich hatte sie gehofft, sich aus Revell Court davonzustehlen, ohne ihm noch einmal zu begegnen, aber sie hätte wissen müssen, dass der Mann viel zu ekelhaft war, um es ihr leicht zu machen. Vielleicht wollte er sich ja für die schockierenden Avancen entschuldigen, die er ihr letzte Nacht gemacht hat- te – oder vielleicht wollte er es ja noch einmal versuchen. Sie entschied, dass es nichts schaden könnte, noch einmal kurz bei ihm vorbeizuschauen, da sie ja in jedem Fall im Auf- bruch begriffen war. Sie war viel zu stolz, sich vor ihm zu verstecken.
Nachdem sie ihr Frühstück beendet und sich die Zähne ge- putzt hatte, warf sie einen nervösen Blick in den Spiegel, runzelte die Stirn, als sie ihre erwartungsvoll geröteten Wan- gen sah, und strich sich das Haar glatt. Dann bat sie das Dienstmädchen, sie in die Bibliothek zu führen.
Kurz darauf schritt sie durch die labyrinthartigen Flure im Obergeschoss, bis sie die Haupttreppe erreichten, wo der ers- te Marquis of Carnarthen von seinem Porträt auf eine lär- mende Gästeschar herunterblickte, die sich in der Eingangs- halle verabschiedete. Mr. Godfrey und ein halbes Dutzend Lakaien eilten umher, um den letzten Forderungen der Gäs- te nachzukommen, während in den gegenüberliegenden Ecken zwei schwarz gekleidete Wachleute standen und alles beobachteten.
Dracos Getreue schienen ein Mindestmaß an Schamgefühl wieder gefunden zu haben, denn sie hatten ihre Gesichter hinter Schleiern und breitkrempigen Hüten verborgen. Den- noch grinste der erste Marquis auf sie hinunter, als wollte er ihnen zu verstehen geben, dass sie sich zwar verstecken mochten, er aber all ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse kannte.
Das Genörgel der Gäste verebbte, als Alice dem Mädchen einen stillen Korridor hinunterfolgte. Bei Tageslicht wurde sie von der Tudorherrlichkeit von Revell Court förmlich ge- blendet. Im Vorübergehen schaute sie in die zahlreichen Räume und entdeckte hohe Eichentäfelungen, cremeweißen Stuck, beeindruckende Renaissancekamine und auf den braungrauen Granitplatten bunte, vom Alter schon etwas ausgeblichene Teppiche. Durch die rautenförmigen Schei- ben der Stabwerkfenster fiel Sonnenlicht und tanzte auf den schweren, altehrwürdigen Möbeln und den reichhaltigen Ta- pisserien mit Jagdmotiven.
Die strenge männliche Atmosphäre war Welten entfernt von der luftigen Heiterkeit auf Glenwood Park mit seinen pastellfarbenen Räumen und verschnörkelten Sofas, doch wohnte dieser Traditionsverbundenheit auch etwas Tröstli- ches inne. Sie mochte den Geruch nach Leder, Bienenwachs und Pfeifentabak. Vor einer geschlossenen Tür am Ende des Hauptkorridors blieb das Dienstmädchen stehen.
„Die Bibliothek, Miss“, murmelte sie und knickste.
„Danke.“ Alice nickte ihr zu und klopfte.
Als sie Lucien „Herein!“ sagen hörte, setzte ihr Herz einen Schlag aus.
Sie straffte die Schultern und öffnete die Tür. Er stand am Fenster, lässig gegen einen Bücherschrank gelehnt, und las in einem dünnen, ledergebundenen Bändchen. Die Morgen- sonne glänzte auf seinem schwarzen Haar, das von der mor- gendlichen Wäsche noch etwas feucht war. Sie starrte ihn an und machte zwei vorsichtige Schritte auf ihn zu, ganz ge- blendet von seiner äußerlichen Veränderung. An diesem Morgen zeigte er die lässige Eleganz des Landedelmanns. Er trug einen burgunderroten Rock über einer einreihigen Sei- denweste mit Stehkragen und beigefarbene Hosen. Ganz auf sein Buch konzentriert, blickte er nicht auf. Sie war momen- tan abgelenkt von der Art, wie er das Buch hielt, wie er den Ledereinband zu liebkosen schien. Er hatte wunderschöne Hände, groß und männlich, voll Kraft und doch elegant. Sie dachte daran, wie diese Hände unter ihre Röcke geglitten waren, und unterdrückte einen Schauder.
„,Komm, liebe mich und leb mit mir’„, begann er.
Alice blinzelte
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