Gaelen Foley - Knight 02
verwandelte den steilen Pfad in einen einzigen Schlammfluss, den sie sich hinaufkämpfen mussten. Alice konnte nicht fassen, dass mindestens noch eine Meile vor ih- nen lag, bis sie in Sicherheit waren. Sie war bis auf die Haut durchnässt, ihre pelzbesetzte Pelisse, ihr Kleid, ihre Hand- schuhe und ihre Halbstiefel waren vollkommen ruiniert – wie sie selbst, wenn irgendwer herausfand, dass sie ohne Anstandsdame bei Lucien Knight gewohnt hatte. Dann er- tönte direkt über ihnen ein ohrenbetäubender Donner- schlag. Mit einem spitzen Angstschrei stolperte sie auf Lu- cien zu. Dieser legte stützend den Arm um sie. „Schon gut.“ Sie klammerte sich an ihn, konnte seine beruhigenden Worte über dem Tosen des Unwetters aber kaum hören. Mit aschgrauem Gesicht schaute sie auf. „Laufen wir!“
Er nickte und nahm sie fest bei der Hand. Der Pfad hatte ein Plateau erreicht und schlängelte sich durchs Gebüsch. Sie rannten immer weiter. Der Wind setzte ihnen nach, jag- te sie durch den dunklen Wald, ließ Blätter, Rinde und klei- ne Zweige auf sie herabfallen und warf ihnen Äste in den Weg. Vor dem nächsten Anstieg wurden sie langsamer, denn der Weg war steil wie eine Treppe, und im Matsch lagen überall große Felsblöcke herum.
Lucien ging voran. Er stieg vor ihr den Hügel hinauf, drehte sich alle paar Meter um und zog sie hoch. Alice kämpfte sich tapfer voran, obwohl sie sich vor Furcht unge- schickt zu bewegen begann. Ihr klapperten die Zähne, ihr Gesicht war matschbespritzt, und ihre Knie zitterten. Der Sturm tobte durchs Tal wie ein heulender Geist. Als ein Blitz herabfuhr und gleich darauf ein Donnerschlag ertön- te, der die Welt erbeben ließ, stieß Alice einen Schrei aus, zuckte vor Angst zusammen und rutschte im Matsch aus. Sie spürte, wie sie den Halt verlor, und schrie nach Lucien. Er war nur ein Stück vor ihr, aber außer Reichweite, und wirbelte herum, gerade als sie das Gleichgewicht verlor. Sie sah nur noch seinen entsetzten Gesichtsausdruck, als sie hinfiel und im Matsch den Hügel hinunterrollte. Sie schlug sich das Knie an einem Felsen auf und prallte schließlich so heftig gegen einen Baum, dass ihr die Luft wegblieb.
Im nächsten Moment war Lucien bei ihr. Sie lag reglos auf der Seite.
„Alice!“ Er fiel neben ihr auf die Knie. Sobald er sie be- rührte, konnte sie wieder atmen.
Scharf sog sie die Luft ein und schaute ihn in einer Mi- schung aus Furcht und Demütigung an. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Miene wild.
„Nicht bewegen, nur atmen“, sagte er in erzwungener Ru- he.
Ihr Blick war tränenverschleiert. Sie kämpfte sich ein we- nig hoch und betrachtete angewidert den Matsch und die Blätter, die an ihr klebten.
„Bleiben Sie liegen ...“
„Aber ich bin so dreckig!“
„Gott sei Dank haben Sie sich nicht den Hals gebrochen“, flüsterte er. „Haben Sie sich den Kopf angeschlagen?“
„Nein, nur die Schulter“, erwiderte sie mit zitternden Lippen. Sie rieb sich die linke Schulter.
„Lassen Sie mich mal sehen, ob sie gebrochen ist“, befahl er kurz angebunden.
Sie wimmerte ein wenig, als er Schulterblatt und Schlüs- selbein bis zum Halsansatz abtastete. Der Regen strömte ihm das Gesicht herab, und sein Atem kondensierte zu einer weißen Wolke. Alice schaute ihn voll Elend an. Sie kam sich so dumm vor.
Seine Gesichtszüge entspannten sich allmählich vor Er- leichterung. „Was tut Ihnen noch weh?“
„Das Knie.“
Sie war viel zu erschüttert, um Einwände zu erheben, als er ihr den Rock bis zum Knie hochschob. Er presste die Lip- pen zusammen, und Alice schaute ihn voll Angst an, als sie den Blutfleck bemerkte, der sich auf ihrem weißen Strumpf ausgebreitet hatte.
„Können Sie es bewegen?“
Vorsichtig beugte und streckte sie das Knie ein paar Mal und nickte dann.
„Sie müssen es sich ganz schön heftig angestoßen haben.“ Lucien begegnete ihrem Blick und entdeckte die Tränen in ihren Augen. Sofort wurde seine Miene weich. „Meine Sü- ße“, flüsterte er und nahm sie in die Arme. „Psst, weinen Sie doch nicht.“
Wie er sie so fest hielt und vor Regen und Sturm beschütz- te, konnte sie seinen Herzschlag spüren.
„Himmel, haben Sie mich erschreckt.“ Er holte ein Ta- schentuch aus der Weste und wischte den Schmutzspritzer aus ihrem Gesicht. Seine Hand zitterte ein wenig, als er ihr den Regen aus den Augen tupfte. „Legen Sie die Arme um mich“, befahl er rau.
Wegen seines Tons und weil er ihrem Blick auswich, über- legte
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