Gänseblümchen - Mein glückliches Leben mit meinem behinderten Sohn (retail)
bei einem Einkaufsbummel zeigten. Weg damit, Platz machen für neue, für realistischere Bilder. Aber wie, wenn man keine Ahnung hat, was da wirklich kommt? Wäre es nicht einfacher zu realisieren gewesen, hätte man es ihm wirklich ansehen können? Nur wenn man genau hinsah, merkte man, dass die Feinmotorik nicht so ganz stimmte. Es mag komisch klingen, aber kann man besser mit so etwas klarkommen, wenn man es auch sieht? Eine rosarote Brille hatte ich nie auf, aber ich hätte gern gewusst, wie seine Krankheit wirklich hieß.
Ich ahnte die Wahrheit: Mein Sohn hatte keine Chance auf ein Leben, das man als normal, als eigenständig, als erwachsen bezeichnen könnte. Es tat weh, es schmerzte. Anstatt vergnüglich mit ihm durch die Stadt zu ziehen, fünfe mal gerade sein zu lassen, würde er immer in einer für ihn passenden Ordnung leben müssen. Ich sah den Hilferuf in seinen Augen, wenn man ihm Blut abnahm und ich stand daneben und unternahm nichts gegen den Schmerz, den man ihm zufügen musste. Andreas entwickelte gewaltige Kräfte, wenn es ans Blutabnehmen ging und ich erinnere mich sehr gut an ein Blutbad, das Ulli einmal angerichtet hat. Es war keine Schwester greifbar und er hatte angenommen, dass ich meinen Sohn alleine würde halten können. Ich konnte es nicht. Wir drei sahen aus als wären wir frisch einer Opferbank entsprungen. Danach habe ich Andreas nie wieder festgehalten. Es ist einfach nicht meine Aufgabe als Mutter, mein Kind zu halten. Meine war es, ihn zu trösten und zu beruhigen, ihm zu sagen, dass alles bald vorbei sein würde.
Als Heranwachsender tolerierte Andreas irgendwann diese Stecherei, aber nur dann, wenn man dort Blut abnahm, wo er es genehmigte.
Ulli war es, dem ich vertraute und den ich eines Tages bat, alle Fakten auf den Tisch zu legen, mir seine Einschätzung zu geben, wo Andreas und somit auch der Weg seiner Familie hingehen würde. Bis auf einen einzigen Punkt traf alles so ein, wie er es mir an diesem Tag in der Kinderklinik in Erlangen gesagt hatte.
An diesem Tag begrub ich die letzten Träume, die ich mir noch bewahrt hatte, und radierte die wenigen Bilder eines normalen Lebens, die ich im Kopf hatte, aus. Kein normales, unbeschwertes Leben, die Anfälle würden immer da sein, würden uns immer begleiten, egal wo wir auch hingehen würden.
Aber mit Ullis Ansage konnte ich trotzdem leben, weil mein Sohn es schließlich auch können musste, weil er mich mit seinem Lachen, seiner Lebensfreude und seinen Streichen für alles entschädigte. Man konnte ihn immer zum Lachen bringen, auch wenn es ihm mal schlecht ging.
Nachdem Andreas recht gut eingestellt war, wurden wir entlassen. Das war unser letzter Aufenthalt in der Kinderklinik in Erlangen.
Nun mussten wir lernen, damit zu leben, damit umzugehen. Es galt anzunehmen, dass Andreas in seiner Entwicklung irgendwann stehen bleiben würde. Seine Behinderung sollte zu unserer Normalität werden. Ich hatte alles, einen Babysitterring, Großeltern, seine Tante und seinen Onkel, aber irgendwie hatte ich in den vergangenen Jahren mich und mein eigenes Leben völlig aufgegeben.
In dieser Lernphase mogelten wir uns durch die Zeit. Andreas wurde am Morgen für den Kindergarten abgeholt und um halb vier wieder nach Hause gebracht. Morgens mussten wir pünktlich für den Bus fertig sein und nachmittags mussten wir pünktlich zu Hause sein, um ihn in Empfang zu nehmen. Das unterschied uns nicht von Familien mit gesunden Kindern. Allerdings konnte Andreas niemals nach dem Kindergarten mit zu einem Freund gehen oder einen Freund zum Spielen mitbringen. Er konnte auch nicht zu einem Kindergeburtstag eingeladen werden, feierte seinen immer nur mit seiner Familie.
Wenn Andreas im Kindergarten war, tat ich das, was alle Mütter machten: ich machte meinen Haushalt, kümmerte mich um Claudia, ging mit ihr hinaus, immer die Uhr im Blick. Die Uhr und ich waren schon seit Andreas’ erstem Anfall eins, obwohl man mit der Zeit sehr genau abschätzen kann, wie lange ein Anfall wirklich gedauert hat, da braucht man dann keine Uhr mehr. Außerdem finde ich, es ist egal, ob ein Anfall 1:50 Minuten oder 2:10 Minuten dauert, die Hauptsache ist, er hört überhaupt auf.
Claudia und ich genossen die Zeit für uns. Als sie in den Kindergarten kam und dann auch mal nachmittags hingehen wollte, war ich immer auf fremde Hilfe angewiesen, weil der Kindergarten genau zu der Zeit endete, in der Andreas vom Bus nach Hause gebracht wurde.
Manchmal, wenn ich fast
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